Top Ten Thursday | Ältere Semester

Mit diesem Beitrag möchte ich bei einer Blogger-Aktion teilnehmen.

Logo: Top Ten Thursday

Und zwar hat es mir der Top Ten Thursday von Aleshanee (Weltenwanderer) angetan – ich beobachte die Aktion schon seit einer Weile. Jede Woche kommen dabei so viele wundervolle Buchvorschläge zusammen…

Beim Top Ten Thursday geht es darum, jeden Donnerstag eine Liste aus zehn Titeln zu einem bestimmten, vorgegebenen Thema zusammenzustellen.

Die heutige Aufgabe lautet:

10 Bücher, in denen ältere Menschen / Senioren die Hauptrolle spielen

Zugegeben – bei dieser Aufgabe stand ich lange Zeit grübelnd vor meinem Bücherregal und musste bei dem ein oder anderen Beispiel die Definition von «älteren Menschen» auch etwas lockerer nehmen. Aber ich habe es letztendlich geschafft

Ich präsentiere hiermit zehn Bücher aus meiner persönlichen Sammlung, in denen ältere Menschen oder Senioren die Hauptrolle spielen!

Top Ten

1) Cloud Atlas (Der Wolkenatlas) von David Mitchell

Spätestens seit der grandiosen Verfilmung ist David Mitchells Cloud Atlas in aller Munde. Der 2004 veröffentlichte Roman verknüpft auf kreativste Art und Weise nicht nur sechs völlig unterschiedliche Erzählungen, die überdies in verschiedenen Zeiten spielen, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in eine dystopische Zukunft, sondern bedient sich dabei auch sechs völlig unterschiedlicher Literaturgattungen und Erzählstile, vom Tagebuch über den Kriminalroman bis hin zur actiongeladenen Science-Fiction. Zumindest bei zwei der Protagonisten, dem erfolglosen Verleger Timothy Cavendish aus der Gegenwart und dem Ziegenhirten Zachary aus einer apokalyptischen Zukunft, handelt es sich zweifelsfrei um Senioren.

Buchcover: "Cloud Atlas" von David Mitchell & "Marianengraben" von Jasmin Schreiber
„Cloud Atlas“ & „Marianengraben“

2) Marianengraben von Jasmin Schreiber

Der Debüt-Roman der erfolgreichen Bloggerin Jasmin Schreiber erschien Ende Februar dieses Jahres zu einem wirtschaftlich gesehen denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Dennoch stieg das Werk direkt auf Platz 13 der Spiegel-Bestsellerliste ein. Auf faszinierend humorvolle Weise thematisiert Marianengraben Verlust und Depression, ohne diese schwerwiegenden Themen dabei auf die leichte Schulter zu nehmen oder ihren Ernst herunterzuspielen. Wir begleiten die mittzwanzigjährige Paula und den schrulligen Rentner Helmut auf einem Roadtrip, der skurriler nicht sein könnte – und dabei gleichzeitig unmittelbar aus dem Leben gegriffen wirkt.

3) Ruhm: Ein Roman in neun Geschichten von Daniel Kehlmann

Das 2009 erschienene Werk Ruhm kann man nicht wirklich einen Roman nennen, denn es vereint ganze neun unterschiedliche Erzähltstränge miteinander. Der Stil erinnert ein wenig an Mitchells Cloud Atlas, ist mit seinen neun Kapiteln auf lediglich 200 Seiten aber deutlich weniger komplex. Alle Abschnitte spielen zudem in einer Version der Gegenwart und sind auf mehreren metatextuellen Ebenen miteinander verschränkt. Die Protagonistin des dritten Kapitels, Rosalie, eine krebskranke Seniorin, begibt sich auf die Reise zu einem Sterbehilfeverein in der Schweiz. Als Romanfigur versucht sie dabei jedoch, ihren Autor, ebenfalls ein Protagonist des Romans, davon zu überzeugen, sie weiterleben zu lassen. Ob ihr das gelingt?

Buchcover: "Ruhm" von Daniel Kehlmann und "Johan Holtrop" von Reinald Goetz
„Ruhm“ & „Johann Holtrop“

4) Johann Holtrop: Abriss der Gesellschaft von Reinald Goetz

Der 2012 erschienene Roman des mit seinen Texten und bei seinen Auftritten stets provozierenden Autors Reinald Goetz ist das, was der Titel vorgibt: ein schockierender und deprimierender Abriss der Gesellschaft. Johann Holtrop ist ein deutscher Spitzenmanager, wie er im Buche steht. Ein skrupelloser Widerling, der hoch aufsteigt, nur um dann noch tiefer zu fallen. Zugegebenermaßen handelt es sich bei Holtrop nicht direkt um einen Senioren, aber zumindest am Ende der Erzählung, die sich von 2001 bis ins Jahr 2010 erstreckt, ist er mit Ende 50 sicherlich nicht mehr der Jüngste.

5) Die Folgende Geschichte von Cees Nooteboom

Die Novelle des niederländischen Autors Cees Nooteboom wurde im Original erstmals 1991 veröffentlicht und im selben Jahr ins Deutsche übersetzt. Der ehemaliger Gymnasiallehrer und weltfremde Altphilologe Hermann Mussert erinnert sich an die Geschehnisse seiner Vergangenheit, an eine Liebe, an eine Jugend. Eine mysteriöse Schiffsfahrt wird zu einer Totenreise, an deren Ende die Folgende Geschichte beginnt.

Buchcover: "Die folgende Geschichte" von Cees Nooteboom & "Die Stunde der Spezialisten" von Barbara Zoeke
„Die folgende Geschichte“ & „Die Stunde der Spezialisten“

6) Die Stunde der Spezialisten von Barbara Zoeke

Mit seiner Publikation im Jahr 2017 trifft der historische Roman den Nerv der Zeit. Die Stunde der Spezialisten handelt von der sogenannten «Aktion T4», den schrecklichen «Euthanasie»-Verbrechen der Nationalsozialisten. Dieser Massenmord an physisch und psychisch Kranken wurde in der Kulturgeschichte viel zu lange kaum repräsentiert. Doch Barbara Zoeke gelingt es mit dem alternden Universitätsprofessor Max Koenig und dem Arzt Friedel Lerbe, sowohl den Opfern als auch den Tätern dieses tiefschwarzen Moments der deutschen Geschichte eine authentische Stimme zu verleihen.

Meine Rezension zu Die Stunde der Spezialisten findet ihr übrigens hier.

7) Le Malade imaginaire (Der eingebildete Kranke) von Molière

Das letzte Theaterstück des französischen Dramatikers Molière ist zugleich sein wohl bekanntestes Werk. Dies hängt sicherlich auch mit dem ungewöhnlichen, plötzlichen Tod zusammen, den der Autor während der vierten Inszenierung der Komödie am 17. Februar 1673 auf der Bühne erlitt, während er persönlich die Hauptrolle verkörperte, den alternden Hypochonder Argan. Trotz seines Alters bietet Der eingebildete Kranke auch heute noch hervorragende Unterhaltung und hat wenig von seiner Aktualität verloren. Das Stück wird noch immer regelmäßig in Theatern rund um den Globus aufgeführt.

Buchcover: "Le Malade imaginaire" von Molière & "Flaubert's Parrot" von Julian Barnes
„Le Malade imaginaire“ & „Flaubert’s Parrot“

8) Flaubert’s Parrot (Flauberts Papagei) von Julian Barnes

1984 für den Booker Prize nominiert, ist der im selben Jahr veröffentlichte Roman eine postmoderne, fiktionale Abhandlung über den französischen Romancier Gustave Flaubert. Der Protagonist Geoffrey Braithwaite, ein ehemaliger englischer Landarzt, begibt sich auf die Spuren Flauberts, genau genommen auf die Spuren von einem ausgestopften Papagei, der den französischen Autor inspiriert haben soll. Die Erzählung handelt von der vergeblichen Suche nach dem Originalen und dem Authentischen, doch der Protagonist verliert sich letztendlich in dem Versuch, all die Widersprüche um das Leben und die Figur des historischen Autors zu begreifen.

9) Der Augenzeuge von Ernst Weiß

Mit Der Augenzeuge schleicht sich die zweite Erzählung in diese Liste, die vom Nationalsozialismus handelt. Ernst Weiß’ letzter Roman erschien 1963 posthum und handelt von der Lebensgeschichte eines katholischen Arztes, der in einem Lazarett des ersten Weltkriegs einen zur Blindheit verwundeten Soldaten heilt, der nur mit den Initialen «A.H.» bezeichnet wird, aber auch in allen weiteren biographischen und charakterlichen Aspekten eindeutig als der spätere Führer der Nationalsozialisten zu identifizieren ist. Es handelt sich um ein Zeugnis, ein Geständnis, ungeschönt und brutal, im Strudel nationalsozialistischer Ideologien.

Buchcover: "Der Augenzeuge" von Ernst Weiß & "Alles über Sally" von Arno Geiger
„Der Augenzeuge“ & „Alles über Sally“

10) Alles über Sally von Arno Geiger

Ich muss zugeben, dass ich diesen 2010 publizierten Roman als einzigen dieser Liste abbrechen musste, allerdings erst im letzten Kapitel. Alles über Sally ist ein Porträt einer zerrütteten Ehe zwischen einer vitalen, sexuell aktiven Lehrerin und ihrem eigenbrötlerischen und stinklangweiligen Ehemann, dem die Seitensprünge seiner Frau völlig egal sind. Ein Ehepaar, das kaum miteinander spricht, eine egoistische Frau im Hormonchaos der Wechseljahre und ein Mann, dessen Misere sich im letzten Kapitel in der Form eines geradezu unleserlichen Gedankenstroms zuspitzt, der nur als kläglich gescheiterter Versuch gewertet werden kann, einen James Joyce zu imitieren. Ein Buch, das ich ganz sicher nie wieder in die Hand nehmen werde – aber immerhin handelt es sich bei dem Protagonisten Alfred mit seinen knapp 60 Lebensjahren um eine ältere Person.

Ich bedanke mich für die tolle Inspiration!

PS: Alle unsere Beiträge zum Top Ten Thursday findet Ihr hier.


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„Die Stunde der Spezialisten“ von Barbara Zoeke | Rezension

Titel:Die Stunde der Spezialisten
Autorin:Barbara Zoeke
Veröffentlichung:September 2017
Verlag:Die Andere Bibliothek

Klappentext

Es ist die Stunde der Spezialisten, wenn der Größte Feind der Wahrheit nicht die Lüge ist, sondern die Überzeugung.

NS-Deutschland 1940: Max Koenig ist Professor für Kunstgeschichte. Die Diagnose eines ererbten Nervenleidens, das einmal der «Schwarze Gast» hieß, reißt ihn aus seiner Karriere und fort von seiner italienischen Frau und der kleinen Tochter.

Empathisch dun erschütternd klar: Barbara Zolke gibt den Opfern und Tätern eines der verdrängten Verbrechen der Nationalsozialisten eine literarische Stimme – eine «Litanei auf die Farbe Schwarz».

Eine Frau, die auszog, das Fürchten zu lehren

In der Laudatio zu Ehren Barbara Zoekes im Rahmen der Verleihung des Gebrüder-Grimm-Preises der Stadt Hanau nannte der Redner Andreas Platthaus sie eine Frau, «die auszieht, das Fürchten zu lehren.» Der im August 2017 erschienene historische Roman Die Stunde der Spezialisten ist in der Tat keine leichte Kost. Denn die Erzählung stützt sich auf ein Thema, das in der Nachkriegszeit fast vollkommen tabuisiert und neben der umfangreichen historischen wie literarischen Aufarbeitung der Shoah beinahe vergessen wurde. Und das, obwohl im Rahmen der eugenischen «Säuberungsaktion» mehr als 200.000 Morde an physisch und psychisch Kranken verübt wurden, wovon etwa ein Drittel allein der nach der damaligen Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 «T4» benannten «Euthanasie»-Aktion zum Opfer fiel. Die habilitierte Psychologin Zoeke wählt zu diesem Zweck einen nüchternen literarischen Stil und lässt, eingebettet in einen Rahmen aus historischen Geschehnissen, Orten und Persönlichkeiten, zwei fiktive Charaktere jeweils ihre Geschichte erzählen. Auf der einen Seite begleiten die Lesenden den Altphilologen Max Koenig, der an der Erbkrankheit Chorea Huntington leidet und 1941 im Zuge der genannten Aktion ermordet wird, auf der anderen Seite den Chefarzt der Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg, Friedel Lerbe, Mitglied der NSDAP und der SS.

Buchdeckel der "Stunde der Spezialisten" von Barbara Zoeke. In den Karton eingestanzt ist die Silhouette eines Krankenhausbetts.
Buchdeckel „Die Stunde der Spezialisten“

Zu Beginn der Stunde der Spezialisten wird der Universitätsprofessor Koenig nach einem Zusammenbruch in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort stellt sich heraus, dass das erbliche und unheilbare Nervenleiden, das seinen eigenen Vater im fortgeschrittenen Stadium in den gemeinsamen Selbstmord mit dessen Frau getrieben hatte, nun auch bei ihm selbst ausgebrochen ist. In den Wittenauer Heilstätten trifft er auf die Stationsschwester Rosemarie, die ihm mit allen ihr zu Verfügung stehenden Mitteln zu helfen versucht, und freundet sich mit dem psychisch angeschlagenen Studienrat Dr. Carl Hohein, der jungen, vom «Heldentod» ihres Vaters auf dem Schlachtfeld traumatisierten Musikerin Fräulein Elfie und dem an Trisomie 21 leidenden Jungen Oscar an. Die «Währung» auf der Pflegestation misst sich in Nahrung, der Wert der Insassen an deren Arbeitskraft.

Während Hohein in der Kriegsindustrie zu arbeiten vermag und aus diesem Grund nicht unmittelbar von der Tötungsaktion bedroht ist, gelingt es den Freunden, Elfie als Hausmädchen in die Sicherheit der Familie von Koenigs Schwägerin Catja zu vermitteln, der Frau des hochrangigen NS-Beamten Gernoth von Trabitz. Koenig selbst und Oscar dagegen werden schließlich in die Tötungsanstalt Bernburg verlegt, wo der Chefarzt Lerbe persönlich den Gashahn aufdrehen wird – ein Neffe Gernoth von Trabitz’ und flüchtiger Bekannter Koenigs. Der neben seinem älteren Bruder erfolglose Friedel Lerbe sieht in der «Euthanasie»-Aktion eine Gelegenheit, endlich als Arzt Karriere zu machen. Als fanatischer Verfechter der Rassenhygiene trägt er seine geheime Verantwortung mit Stolz und führt seine Aufgaben mit akribischer Sorgfalt durch. Mit seinem Team an Pflegern, Technikern und Leichenbrennern sorgt er dafür, dass die eingelieferten «Patienten» verschwinden, ohne bei den Angehörigen Misstrauen zu wecken. Zu diesem Zweck studiert er allerlei Krankheiten mit möglichem tödlichem Verlauf und fertigt gar eine offizielle ausführliche Auflistung und Kategorisierung möglicher Alibi-Todesursachen an.

Die Geister, die Zoeke rief

Die Autorin Barbare Zoeke legt in Die Stunde der Spezialisten Wert darauf, ihre beiden Protagonisten Koenig und Lerbe aus der bürgerlichen Mittelschicht stammen zu lassen. Beide werden als ambivalente Charaktere portraitiert, die an bestimmte Werte und Ideale glauben, Überzeugungen teilen und sich auch vor bestimmten Dingen verschließen, sie nicht sehen oder verstehen wollen: Es handelt sich ausdrücklich nicht um eine klassisch-literarische Paarung aus herausragendem Helden und „bösem“ Antihelden, sondern um vollkommen gewöhnliche, dem Alltag entsprungene Personen. Zoeke konzipierte den Roman zweifelsfrei für Lesende, welche in etwa dem gesellschaftlichen Stand der handelnden Figuren entsprechen. So wird ein gewisser Bildungsgrad vorausgesetzt, um einzelne größere Ereignisse der NS-Zeit einordnen zu können. Dazu wird der Roman durch einen ausführlichen Anhang ergänzt, der nicht nur die handelnden Figuren, sondern in einem Glossar auch medizinische sowie historische Details erklärt und prägende Persönlichkeiten vorstellt.

Kunstvolles Cover der "Stunde der Spezialisten" von Barbara Zoeke. Zu sehen ist ein surreal angehauchtes Bild, mit einem NS-Arzt im Zentrum, darum herum verschiedene Gegenstände, wie Krankenhausbetten, Lehrbücher und eine Waage.
Buchcover „Die Stunde der Spezialisten“

Darüber hinaus ist Die Stunde der Spezialisten auf eine beiläufige Art höchst aktuell. Selbstverständlich existieren keine strukturellen Parallelen zwischen der im Roman thematisierten «Euthanasie»-Aktion und der heute geführten Debatte um eine Legalisierung bestimmter Formen der Sterbehilfe, die einen Rückbezug auf die Geschehnisse der NS-Vergangenheit aus rationaler Sicht rechtfertigen würden. So wurde der Massenmord als «[s]treng geheime Reichssache» (S. 151) unter höchster Geheimhaltung durchgeführt, während in den heutigen demokratischen Debatten die Transparenz unangefochten im Mittelpunkt steht. Es ist jedoch eine Frage der Erinnerungskultur, der Furcht vor einer Wiederholung ähnlicher Tendenzen, die viele bei jedem Thema aufhorchen lässt. Aus diesem Grund ist eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen – gerade im Kontext der Themen um die Tötung auf Verlangen und den assistierten Suizid – durchaus notwendig, um einerseits überzeugende Argumente entwickeln zu können und andererseits bestehende Berührungsängste zu konfrontieren. Barbara Zoekes Roman begründet in diesem Zuge anschaulich die Furcht, «dass der Arzt der gefährlichste Mensch im Staate sein könne.» (S. 130) Die Bedrohung liegt in der Kompetenz des Arztes, im Ernstfall zwischen dem Leben und dem Tod hilfloser Personen entscheiden zu können, wobei es als Außenstehender schwierig ist, die Legitimation der medizinischen Handlungen in Zweifel zu ziehen.

Von der Aktualität der Vergangenheit

In seinem autobiographischen Roman Schreiben oder Leben aus dem Jahre 1994 schreibt der spanisch-französische Schriftsteller und Überlebende des Konzentrationslagers Buchenwald, Jorge Semprún:

Gut erzählen heißt: daß man gehört wird. Das gelingt nicht ohne ein paar Kunstgriffe. Genügend, daß es Kunst wird.

Jorge Semprún

Dies ist Barbara Zoeke gelungen. In einer literarisch anspruchsvollen und gleichzeitig sehr anschaulichen und brandaktuellen Erzählung, die zugleich Fiktionalisierung historischer Ereignisse ist, gibt sie Anstoß zur Reflexion über verschiedene Arten des fremd- sowie des selbstbestimmten Sterbens. Sie thematisiert fiktive Einzelfälle, die unterschiedliche Rahmenbedingungen und Kontexte skizzieren. Dabei hat sie mit den nationalsozialistischen Verbrechen einen Handlungsrahmen gewählt, welcher die Debatten um die Legalisierung bestimmter Formen der Sterbehilfe in Deutschland noch heute bedingt. Indem Zoekes Schilderungen Menschheitsverbrechen und verzweifelte Liebestaten, Überzeugungstäter und hilflose Opfer nebeneinander stellen, gelingt es der Autorin, eine zeitlose Diskussionsgrundlage zu schaffen. Zahlreiche im Erzähltext versteckten Kommentare, die im zeitgenössischen Kontext wie heute gleichermaßen ihre Gültigkeit behalten, unterstützen überdies den Beitrag, den Zoeke im medizinethischen Diskurs um Sterbenlassen, assistiertem Suizid und Tötung auf Verlangen leistet.

Die Stunde der Spezialisten ist ein beeindruckender Text, dem es auf geschickte Art und Weise gelingt, sowohl den Opfern als auch den Tätern der «Euthanasie»-Aktion unter dem NS-Regime eine Stimme zu verleihen. Mithilfe verschiedener Blickwinkel weckt der authentische Erzählstil in den Lesenden ganz automatisch eine starke Empathie gegenüber den handelnden Figuren und ihren Schicksalen. Das Buch ist zwar schwer verdauliche Kost, doch das verleiht der Lektüre umso mehr Wert. Dazu erscheint der Roman am Rande einer höchst aktuellen medizinethischen Debatte um den assistierten Suizid in Deutschland…

Kurz & Bündig

PositivNegativ
SchreibstilAnspruchsvoll, nüchtern ★
SpannungVorhersehbar ☆
CharaktereAuthentisch ★
SettingRealistisch ★
HandlungErnst, bedrückend, intensiv ★

Bewertung: ★ ★ ★ ★ ☆

PS: Die Stunde der Spezialisten hat es übrigens auch auf diese Liste geschafft. Dort stelle ich zehn Bücher vor, deren Protagonist*in eine ältere Person oder eine*n Senior*in ist.


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Thema 2020: Die Corona School

Der heutige Beitrag hat nicht direkt etwas mit Büchern oder Filmen zu tun. Stattdessen möchte ich eine Sache vorstellen, die in meinen Augen eine ganz wunderbare Angelegenheit ist. Es ist ein Zeichen der gegenseitigen Unterstützung in schwierigen Zeiten. Und es ist ein Zeichen dafür, dass die Jugend sich kümmert, und zwar heute mehr denn je.

Ich spreche vom Corona School e.V.

Die Corona School ist ein gemeinnütziger, deutschsprachiger Verein, der Studierende, die sich dazu breit erklären, in ihrer Freizeit ehrenamtlich Nachhilfe zu geben, an Schüler*innen vermittelt, die durch die covidbedingten Schulschließungen den Anschluss verloren haben und mit ihrem Schulstoff kämpfen.

Das klingt erst mal nach einem tollen Konzept, oder? Ist es auch!

Die Vision von Solidarität

Auf ihrer Website klagen die Initiatoren der Corona School die Konsequenzen für die Schüler*innen an, welche durch die Stilllegung des öffentlichen Lebens im März dieses Jahres hervorrief. Wessen Eltern ihre Kinder aus Bildungs- oder Zeitgründen nicht oder nur wenig bei ihrem Lernstoff unterstützen konnten, die*der fand sich unwiederbringlich vor einem schier nicht zu bewältigenden Berg voller Steilhänge und Schluchten. Doch auch jene Eltern, die selbst Unterstützung bieten konnten, sind zum einen keine Lehrerenden – ja, auch wenn ich meine Vorbehalte gegenüber der Lehrer*innenausbildung an deutschen Hochschulen habe, kann ich nicht leugnen, dass dieser Beruf einer der wichtigsten unserer Gesellschaft ist! – und andererseits können auch sie inmitten aller Verpflichtungen natürlich nicht über einen längeren Zeitraum die notwendige Zeit aufbringen, um eine erforderliche schulische Unterstützung zu gewährleisten. Vom digitalen Unterricht und den Unterstützungskonzepten der Schulen möchte ich gar nicht erst reden. Natürlich mag es Lehrende geben, die digitale Methoden geschickt und sinnvoll einzusetzen wissen, aber nach allem, was ich über verschiedene Kanäle mitbekommen habe, scheinen diese Exemplare zweifelsfrei in der Minderheit zu sein.

Der Großteil des Unterrichts an deutschen Schulen war seit März dieses Jahres wirklich unzumutbar, was ebenso auf unzureichende Betreuung und im selben Zuge unangemessene Erwartungen der Lehrenden zurückzuführen ist, wie auf die fehlende Medienkompetenz und Selbstdisziplin der Schüler*innen. Doch wer kann es letzteren verübeln? Es ist noch kein Genie im autonomen Lernen vom Himmel gefallen, mit plötzlich digitalen Lernkonzepten weiß man nicht über Nacht umzugehen und niemand – wirklich niemand! – kann von den Kindern verlangen, sich die französische Grammatik oder die Physikformeln «einfach so» selbst beizubringen. Mit anderen Worten: Im Frühjahr 2020 rächten sich die jahrelangen Defizite der deutschen Schulen in Bezug auf Digitalisierung und moderne Unterrichtsformen gnadenlos.

An dieser Stelle kam schließlich die Corona School ins Spiel. Denn mit den Schulen waren natürlich auch die Universitäten geschlossen. An den meisten Hochschulen wurde im Sommersemester eine Art digitales Semester abgehalten, aber auch hier taten sich mehr Probleme als Lösungen auf. Was das für die Studierenden bedeutete? Mit der Ausnahme von ein paar Seminaren, die als Videokonferenz abgehalten wurden, hatten die meisten nicht mehr viel zu tun, zumindest nicht für das Studium. Also kam eine Handvoll Studierende auf die Idee, die Situation der Studierenden fruchtbar zu machen, indem jene und die stark unter der Pandemie leidenden Schüler*innen zusammengebracht werden. Ein besonderer Gedanke galt hier sicherlich denjenigen Schüler*innen, deren Eltern sich womöglich gar keine professionelle Nachhilfe oder Lernunterstützung für ihre Kinder leisten können. Die Corona School war geboren.

Wie es funktioniert

Screenshot der Corona School Homepage: "HAUSAUFGABEN Die Student*innen der Corona School unterstützen dich bei der Bearbeitung deiner Schulaufgaben, ganz gleich, ob Aufgabenbetreuung, Abiturvorbereitung oder Nachhilfe. VERSTÄNDNIS Bei Verständnisschwierigkeiten wiederholen unsere Student*innen den Stoff in aller Ruhe mit dir und schauen, wo es hakt. FRAGEN Auch bei Fragen zum Studium kannst du dich an die Student*innen der Corona School wenden, um von individuellen Antworten zu profitieren."
Quelle: https://www.corona-school.de/schueler

Die Lernunterstützung der Corona School findet – selbstredend – auf einer digitalen Basis und völlig kostenlos statt. Schüler*innen beziehungsweise Eltern registrieren sich ganz einfach mit Namen und einer gültigen E-Mail-Adresse, die für die Kontaktaufnahme gebraucht wird. Ansonsten muss nur noch ausgewählt werden, ob man sich für das klassische Nachhilfeformat und/oder für einen der Gruppenkurse interessiert, und um welche Klassenstufe und Fächer es geht. Dann heißt es warten…

Studierende müssen im Prinzip exakt die gleichen Angaben ausfüllen: Name und gültige E-Mail-Adresse, die Art der angebotenen Unterstützung, also individuelle Nachhilfe oder Gruppenunterricht, und für welche Fächer und Klassenstufen sie zur Verfügung stehen. Für Studierende gibt es allerdings noch einen weiteren Schritt. Um die Sicherheit der Schüler*innen zu gewährleisten, muss jede*r Studierende via Videochat ein persönliches Kennenlerngespräch mit einer*m Beteiligten der Corona School absolvieren, in dem die Aufgaben und das weitere Vorgehen geklärt wird.

Der nächste Schritt ist schließlich das Matching. Da selbstredend weniger Studierende als Schüler*innen angemeldet sind, dauert die Vermittlung für letztere je nach Fächerwunsch etwas länger. Allerdings nehmen viele Studierende wiederum zwei oder mehr Schützlinge auf, was wiederum ein wenig Gleichgewicht schafft. Innerhalb weniger Tage bis Wochen erhalten Schüler*innen und Studierende jeweils die elektronischen Kontaktdaten ihres Matches. Die Corona School stellt für ein erstes Kennenlerngespräch zwischen Schüler*innen und Studierenden noch einen Konferenzraum auf der kostenlosen Videochat-Plattform Jitsi zur Verfügung, der Rest wird schließlich dem nun zusammengebrachten Paar überlassen.

Die Lernhilfe selbst findet natürlich ebenfalls auf digitalem Wege statt, wobei die konkreten Methoden völlig frei wählbar sind. Ob man weiterhin den Bereitgestellten Jisti-Link nutzt, oder lieber auf Zoom, Skype oder WhatsApp wechselt, ist jedem Paar selbst überlassen. Ebenso die Regelmäßigkeit und die konkrete Form der Nachhilfe. Videochat, E-Mail, Telefonat, WhatsApp – der Kreativität sind an dieser Stelle keine Grenzen gesetzt.

Ich bin dabei! Du auch?

Ich selbst meldete mich erst relativ spät, nämlich im Mai dieses Jahres, als Studentin bei der Corona School an. Damals war ich – natürlich ebenfalls aufgrund einer coronabedingten Verzögerung! – noch in der Universität eingeschrieben, hatte mein Studium aber eigentlich längst abgeschlossen. Obwohl ich die Fächer Deutsch, Englisch, Französisch und Philosophie für alle Klassenstufen anbot, wurde ich letztendlich innerhalb weniger Tage nur für Französisch an zwei Schüler*innen der sechsten und achten Klasse Gymnasium vermittelt. Beide hatten aufgrund des Schulausfalls und im digitalen Umfeld offenbar nicht sehr kompetenter Lehrkräfte nicht nur starke Defizite im Fach Französisch, sondern geradezu jede Hoffnung aufgegeben.

Beide Schüler*innen unterrichte ich nun seit sechs Monaten jeweils ein bis zwei Mal in der Woche. Die ehrenamtliche Arbeit bereitet mir großen Spaß, ohne, dass ich mich oder mein Umfeld dabei unnötigen sozialen Kontakten aussetzen muss. Social Distancing ist schließlich immer noch aktuell, bei den aktuellen Zahlen mehr denn je. Im vergangenen halben Jahr konnte ich mit Freuden beobachten, wie beide Schüler*innen nicht nur in Bezug auf den Stoff und Lehrplan langsam, aber stetig, aufholten, sondern auch zunehmend bessere Leistungen erzielten und sogar wieder ein bisschen Spaß am Fach Französisch entwickelten. Dabei sind beide ehrgeizig und nehmen die Lernunterstützung aus eigenem Antrieb wahr.

Heute bin ich zwar keine Studentin mehr, werde aber zumindest die beiden mir bisher vermittelten Schüler*innen weiterhin unterstützen, solange es zeitlich machbar ist. Es ist eine ehrenamtliche Tätigkeit, die relativ wenig Aufwand erfordert, deren Früchte man aber beim wachsen geradezu beobachten kann. In Zeiten der sozialen Distanz ist es außerdem völlig unbedenklich und bringt keinerlei Verpflichtungen mit sich.

Die Corona School ist noch immer aktiv und freut sich über neue Studierende. Wenn Du also in Deinem Studium gerade wenig zu tun hast und dich in der aktuellen Situation gerne gesellschaftlich engagieren möchtest, wieso schaust Du nicht einfach mal auf der Homepage der Corona School vorbei? Es handelt sich immerhin um eine wunderbare Sache und nach sechs Monaten als ehrenamtliche Nachhilfelehrerin kann ich den Verein guten Gewissens weiterempfehlen!

Vielleicht bist Du selbst auch Schüler*in oder Elternteil und weißt nicht, wie du im Ernstfall eine erneute Schulschließungswelle meistern sollst? Die Corona School ist auch für Eltern und Schüler*innen völlig kostenfrei und genau für diese Situation ins Leben gerufen worden. Scheue Dich nicht, einmal auf der Website der Corona School vorbei zu schauen. Eine Registrierung ist komplett unverbindlich und erfordert lediglich die zur elektronischen Kontaktaufnahme erforderlichen persönlichen Daten.

Ich bin dabei. Du auch?


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Genshin Impact | PS4 | Review

Titel:Genshin Impact
Entwickler:miHoYo
Publisher:miHoYo
Plattformen:Microsoft Windows, PlayStation 4, Android, iOS
(Angekündigt: Nintendo Switch, PlayStation 5)
Preis:Gratis, In-Game-Käufe möglich (Gacha-System)
Release:28. September 2020

Die Geschichte eines Geschwisterpaars

Sehnlichst hat die Gamingwelt auf den Release des Zelda: Breath of the Wild-Klons Genshin Impact gewartet. Die Ähnlichkeiten des Open-World-Action-RPG zum Vorbild in Bezug auf das Artdesign und einige Spielemechaniken sind offensichtlich, und doch ist es dem chinesischen Entwicklerstudio miHoYo gelungen, etwas ganz Eigenes ins Leben zu rufen. Und das auch noch völlig kostenlos!

Naja, fast. Das Spiel selbst steht zwar kostenfrei zum Download bereit, aber irgendwie muss das seit 2012 bestehende Entwicklerstudio schließlich trotzdem Geld verdienen. Ein großer Kritikpunkt, der in sämtlichen Medien zuhauf durchgekaut wurde, ist deshalb das sogenannte Gacha-System. Dabei handelt es sich um In-Game-Käufe von Lootboxen, deren Inhalte die Spielerfahrung aufwerten (sollen). Das Gacha-System ist allerdings nicht zu verwechseln mit dem allseits verabscheuten Pay-to-Win-Verfahren, bei dem der Name Programm ist. Stattdessen erhalten die Lootboxen in Genshin Impact Charaktere und Items, die nicht notwendig für einen erfolgreichen Spieldurchlauf sind, aber eben gewisse Vorteile mit sich bringen, wie etwa spaßige Kampftechniken.

In dieser Review möchte ich allerdings von weiteren Kommentaren zu diesem sicherlich umstrittenen Spielprinzip Abstand nehmen und meinen Fokus auf den Inhalt legen, also die Story und das Spielerlebnis. Denn, obgleich ich kein großer Fan davon bin, vertrete ich die Meinung, dass miHoYo einen hervorragenden Balanceakt zwischen Bezahlsystem und Content zustande gebracht haben. Aber dazu später mehr. Der offizielle Launch-Trailer bietet euch erste Eindrücke von dem Erlebnis, das euch in Genshin Impact erwartet.

Genshin Impact – Official Launch Trailer

Von Elementarkräften und einer uralten Verschwörung

Themenvorschau von Genshin Impact – „Gnostiker-Erlebnisbündel“|Englische Synchronisation

In Genshin Impact spielen wir eine Reisende beziehungsweise einen Reisenden, je nachdem auf welchen der beiden Protagonisten die Wahl in der Eingangsszene fällt. Ähnlich wie im jüngsten Assassin’s Creed-Titel wird der jeweils andere Part des Geschwisterduos automatisch zum Antagonisten. So handelt die Story von zwei Geschwistern, die beide ihr Gedächtnis verloren haben und um das elementare Gleichgewicht der riesigen Welt Teyvat ringen. Die Geschichte fasst der offizielle Storyteaser treffend zusammen.

Genshin Impact: Paimon, eine schwebende, kindliche, engelshafte Figur. Anime-Zeichenstil
Genshin Impact: Paimon

Unmittelbar nach der erwähnten Eingangsszene findet sich der gewählte, individuell benannte Avatar, der im (englischen) Voiceover nur als «Traveler», also «Reisende» oder «Reisender» bezeichnet wird, an einem idyllischen Strand wieder, wo sie auf Paimon trifft. Paimon ist von nun an die Begleitung der Spielenden, wobei es sich um eine androgyne, beinahe kindliche Figur handelt, die zu allem einen schlauen Kommentar beiträgt. An der Seite von Paimon erkunden wir also das riesige Land Teyvat, in dem bislang die – ebenfalls für sich jeweils beachtlichen – Gebiete Mondstadt, wo sich alles um das Element Wind dreht, und Liyue, das der Erde zugeordnet ist, bereist werden können. Weitere Gebietsabschnitte entsprechend der sieben Elemente Cryo (Eis), Dendro (Leben), Pyro (Feuer), Hydro (Wasser), Anemo (Luft), Geo (Erde) und Electro sind geplant. Dabei werden die Spielenden einerseits durch eine komplexe Mainquest sowie zahlreiche Nebenquests und Aufgaben quer durch die Welt geschickt, andererseits aber auch zum selbstständigen Erkunden animiert.

Wie bereits erwähnt, sind die Parallelen zum Open-World-Zelda-Titel Breath of the Wild in Bezug auf viele Gegnertypen und das allgemeine Kampf- und Questsystem sowie die Fähigkeit mithilfe eines Schirmes durch die Luft zu gleiten und die Karte durch die Aktivierung von Türmen aufzudecken offensichtlich. Im Gegensatz zum Vorbild, bei dem sich die Größenverhältnisse der weitläufigen Map bisweilen verlaufen, ist Teyvat jedoch geradezu vollgestopft mit Details. So kann man sich tatsächlich kaum fortbewegen, ohne auf Gegner, versteckte Truhen, Challenges, Dungeons, NPC-Dörfer, Collectibles oder Quests zu stoßen. Sowohl die Hauptstädte als auch die Landschaften sind wirklich liebevoll gestaltet und schreien geradezu danach, entdeckt zu werden.

Die Haupthandlung von Genshin Impact ist sicherlich keine Innovation, bietet aber trotzdem einen soliden Unterhaltungswert. Neben dem Kernkonflikt um das Geschwisterpaar geht es um alte Götter, imposante Drachen, gefährlicher Magier und «ganz normale Menschen» – kurzum alles, was ein guter High-Fantasy-Epos so braucht. Unterstützt wird das Spielerlebnis von humorvollen Dialogen, welche es locker mit diversen AAA-Titeln aufnehmen können. Positiv sticht außerdem hervor, dass man nahezu jeden der zahlreichen NPCs im Spiel ansprechen und sich dessen Geschichte anhören kann, so irrelevant dies für den Storyverlauf auch sein mag. Bisweilen erhält man auf diese Weise auch kleinere Items oder Hinweise zu bestimmten Orten.

Genshin Impact: Figuren Jean, Diluc, Venti und der weibliche Traveler. Anime-Zeichenstil
Genshin Impact: Jean, Diluc, Venti, Traveler

Neben dem Erkundungswahnsinn ist der nennenswerteste Aspekt von Genshin Impact das Kampfsystem. Auch dieses ist offensichtlich an das Vorbild angelehnt, was sich nicht zuletzt im Angesicht der unterschiedlichen Gegner offenbart, die sehr an Zeldas Bokblins, Moblins, Flederbeißer, Pyromagus und Schleime erinnern. Im Unterschied zu Breath of the Wild allerdings stellen die Spielenden in Genshin Impact aus verschiedenen, teilweise im Storyverlauf und teilweise aus Lootboxen ergatterten Charakteren ein vierköpfiges Team zusammen. Zwar ist immer nur eine dieser Figuren als Avatar aktiv, aber es ist jederzeit möglich, zwischen den ausgewählten Charakteren zu wechseln. Dies ist auch unabdinglich, da sich die Avatars neben unterschiedlichen Nah- und Fernkampfwaffen sowie Kampfstilen auch in den ihnen zugeordneten Elementen und somit auch in ihren Spezialangriffen unterscheiden. So müssen die Spielenden, ähnlich wie in Pokémon, stets die Wechselwirkungen der sieben Naturelemente im Blick behalten, um gegen die diversen Gegner passende Kampfstrategien anzuwenden und auch selbst nicht ins Hintertreffen zu geraten. Bemerkenswert ist außerdem, dass sich jeder der möglichen Charaktere durch einen unverwechselbaren Charakter und eine ausgearbeitete Hintergrundgeschichte auszeichnet, die, wenn sie nicht in den Verlauf der Haupthandlung eingeflochten ist, wie es bei den wichtigsten Figuren der Fall ist, zumindest über das Menü abrufbar ist – sogar mit Voiceover!

Leider bekommt all die Abenteuerlust spätestens im Late-game einen gehörigen Dämpfer. Ich selbst stecke zwar noch mitten in der Mainstory, denn Genshin Impact bringt es mit allen Nebenabenteuern auf etwa 70 bis 100 Stunden Spielspaß. Der dem Game gewidmete Subreddit jedoch sprudelt nur so über vor Beschwerden über das eintönige Late-game, in dem offenbar neben einer Reihe an täglichen Aufgaben nicht mehr viel zu tun bleibt. Glücklicherweise war das aber noch lange nicht alles! Zumindest hat der Entwickler miHoYo nach eigenen Angaben noch viel geplant. Da das Spiel auf allen Plattformen kostenlos zum Download bereitsteht und kontinuierlich geupdated werden soll, können wir also gespannt sein.

Ein Zelda-Klon – und doch so viel mehr

Genshin Impact hat mich persönlich extrem positiv überrascht. Zelda: Breath of the Wild habe ich zwar ebenfalls sehr gerne gespielt, kann aber dessen Langatmigkeit über gewisse sowie die ein oder andere zweifelhaft Design- beziehungsweise Gameplay-Entscheidung nicht leugnen. Nun, meine Hoffnungen wurden gänzlich übertroffen. Das Anime-Spiel pickt sich die guten Elemente des Vorbilds heraus und kombiniert sie mit neuen Elementen zu etwas ganz Eigenem.

Genshin Impact: Ein grün gekleideter Barde spielt Leier. Im Hintergrund sind vier weitere Figuren zu sehen. Anime-Zeichenstil
Genshin Impact: Venti

Handlung, Charaktere, Gameplay, Kämpfe – in all diesen Aspekten überzeugt Genshin Impact auf ganzer Linie. Sicherlich zieht das Gacha-System die Bewertung etwas nach unten, denn ich hätte mit Freuden einen angemessenen Preis für ein fertiges Spiel völlig ohne In-Game-Käufe gezahlt. Dennoch handelt es sich hier nicht um ein Pay-to-Win-Verfahren (mein persönliches K.O.-Kriterium). Genshin Impact lässt sich hervorragend durchspielen, ganz ohne einen einzigen Cent auszugeben, denn auch innerhalb des Spiels gibt es noch diverse Möglichkeiten, an die Währung für die begehrten Lootboxen zu gelangen, was völlig ausreicht, um mit etwas Glück eine kleine Sammlung guter Charaktere und Waffen zu zusammenzustellen.

Insgesamt besitzt Genshin Impact – nicht zuletzt aufgrund der spaßigen Kampfmechanik – einen hohen Wiederspielwert. Da es völlig kostenlos und für eine ganze Reihe an Plattformen angeboten wird, kann ich nur jedem ans Herz legen, dem neuen High-Fantasy-Epos aus chinesischem Hause eine Chance zu geben.

Kurz & Bündig

PositivNegativ
GameplayAbwechslungsreich,
Co-op (Cross-Plattform) möglich ★
Gacha-System ☆
SpannungStarke Quests & komplexes Kampfsystem ★Eintöniges Late-game ☆
CharaktereCharakterstark ★
SettingDetailreich & liebevoll ★
HandlungPackend & authentisch ★

Bewertung: ★ ★ ★ ★ ☆


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„QualityLand 2.0“ von Marc-Uwe Kling | Rezension

Titel:QualityLand 2.0: Kikis Geheimnis
Autor:Marc-Uwe Kling
Veröffentlichung:12. Oktober 2020
Verlag:Ullstein

Hinweis: Diese Rezension beinhaltet Spoiler zum ersten Band QualityLand (2017).

Dieser Klappentext ist einmalig!

Schwer was los in …
QUALITYLAND
… dem besten aller möglichen Länder!

Jeder Monat ist der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnung, ein Millionär möchte Präsident werden, und dann st da noch die Sache mit dem Dritten Weltkrieg. Peter Arbeitsloser darf derweil endlich als Maschinentherapeut arbeiten und versucht, die Beziehungsprobleme von Haushaltsgeräten zu lösen. Kiki Unbekannt schnüffelt in ihrer eigenen Vergangenheit herum und bekommt Stress mit einem ferngesteuerten Killer. Außerdem benehmen sich alle Drohnen in letzter Zeit ziemlich sonderbar …

Kalliopes neuer Mega-Pageturner

Rückseite des Buchcovers von QualityLand 2.0. Text: «Dieses Buch ist ein Mega-Pageturner! Was in Kapitel 4 passiert, ist ultrakrass!»

– Nein, ich habe nicht den Verstand verloren, zumindest nicht völlig. Mit diesem bilderbuchhaften Clickbait-Titel bewirbt der Roman sich selbst, und zwar ganz im QualityLand-Stil nicht nur auf dem Buchrücken, sondern auch auf der Bucheigenen Homepage. Und natürlich steht überhaupt der ganze Inhalt unter diesem Motto, denn, um die altbekannte innenfiktionale Autorin und weltberühmte E-Poetin zu zitieren, ist es «nämlich leider so, dass diejenigen, die mit mir [Kalliope 7.3, Anm. Verf.] um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit konkurrieren, keinen Quality auf guten Stil geben!» So sah sich die arme Kalliope 7.3 offenbar gezwungen, ihre wenig geschätzten literarischen Konkurrenten mit deren eigenen Mitteln zu schlagen, indem sie nahezu alle Kapitelüberschriften nach sämtlichen Regeln der SEO-Kunst hyperoptimiert. Ob sie dann überhaupt noch etwas mit dem entsprechenden Inhalt zu tun haben, bleibt immer wieder eine Überraschung. Hätten wir etwas anderes vom QualityLand-«Update» erwartet? Natürlich nicht!

Neben der allseits beliebten E-Poetin Kalliope 7.3 treffen wir in QualityLand 2.0: Kikis Geheimnis eine ganze Reihe Charaktere aus dem ersten Band wieder. Da ist natürlich Kiki Unbekannt, um die sich der zentrale Handlungsstrang windet, wie der Untertitel natürlich vermuten lässt. Dicht gefolgt von Peter Arbeitsloser, der nun endlich als Maschinentherapeut arbeiten darf, der politischen Strategieberaterin Aisha Ärztin und Martyn Aufsichtsrat-Stiftungspräsident-Berater-im-Präsidialamt-Vorstand, der sich schon im ersten Band von seiner besten Seite gezeigt hat. (Nicht.) Drum herum springen mal hier, mal da, im Wechsel mit einigen wenigen neuen Figuren, auch Tony Parteichef und Conrad Koch, Sandra Admin, Julia Nonne, Bob Vorstand, Henryk Ingenieur und natürlich «der Alte» durch die Kapitel. Schließlich ist auch die Schar an Maschinen wieder am Start, die der ehemalige Maschinenverschrotter Peter einst vor der Vernichtung rettete, allen voran das vorlaute QualityPad Pink. Ach ja, und John of Us. Der ist allerdings nicht wirklich da, wurde er doch im Finale des ersten Bandes Opfer eines Maschinenstürmeranschlags, ausgeführt von Martyn Vorstand. Dafür sorgt genau diese Nicht-Anwesenheit des ehemaligen Präsidenten von QualityLand nun dafür, dass sich unzählige Gerüchte um die vermeintliche Weiterexistenz der künstlichen Intelligenz ranken, was einen Großteil der Gesellschaft in zwei Lager aufspaltet: Verschwörungstheoretiker und Gläubige.

Die Handlung von QualityLand 2.0 ist schnell umrissen. Es geht um Kikis Geheimnis – wer hätte das nur gedacht! Ok, Spaß beiseite. (Was zugegebenermaßen echt nicht einfach ist, wenn man gerade dieses Buch gelesen hat und sich noch nicht so recht davon lösen kann…) Kiki versucht also um jeden Preis, etwas über ihre Herkunft herauszufinden. Wer sind ihre Eltern? Was ist mit ihrer Familie passiert? Wieso erzeugte ein spurlos verschwundenes Baby damals keine Aufmerksamkeit? Die einzige Fährte der Hackerin ist der ferngesteuerte Killerroboter, der ihr neuerdings auf den Fersen ist. Und dann ist da noch der Countdown, der jeden von Kikis Schritten begleitet… Was wird nur passieren, wenn er bei Null angelangt ist?

Buchcover von QualityLand 2.0: Kikis Geheimnis
QualityLand 2.0 von Marc-Uwe Kling

Ähnlich wie die doch relativ banale, aber halt auch sehr lustige Geschichte um Peters Problem im ersten Band stellt Kikis Geheimnis in QualityLand 2.0 den handlungstragenden Spannungsbogen des Romans dar. Er ist zwar nicht sonderlich komplex, spricht aber die aufgebaute Neugierde in Bezug auf die geheimnisvolle Figur Kikis an, die wie ein Gespenst durch die elektronischen Netze spukt und die sich zwischen unzähligen Alias praktisch auf Knopfdruck unsichtbar machen kann. Wir erfahren endlich mehr über die junge Frau mit den grünen Augen! Der Handlungsbogen bringt außerdem die nötige Spannung mit, die mich das Buch beinahe am Stück verschlingen ließ. Ein paar Thriller-Elemente hier, eine Verfolgungsjagd dort – eine simple, in gewisser Weise sehr düstere, aber nichtsdestotrotz gelungene Geschichte.

Obwohl Kikis Geheimnis das Herzstück des Romans darstellt, ist es tatsächlich nur ein kleiner Teil der großen Erzählung. Gerahmt und immer wieder unterbrochen wird die Handlung von Episoden aus Peters, Aishas und Martyns Alltag, die alle ihre eigenen, ganz persönlichen Kämpfe austragen. Seien es das vermaledeite soziale Levelsystem, der plötzlich ausgebrochene Dritte Weltkrieg, der angeblich nicht weniger plötzlich ausgebrochene Klimawandel oder die politischen Machtspiele, keinem der Protagonisten von QualityLand droht auch nur ansatzweise langweilig zu werden. Genauso wie die zahlreichen fiktiven Werbeunterbrechungen, die sich optisch vom Erzähltext abheben, dienen diese episodenhaften Erzählstränge in erster Linie dazu, die alles durchdringende Gesellschaftssatire zu illustrieren. Der Humor ist dabei gewohnt bissig und macht auch vor sinnlosen Kriegen und überforderten Politikern nicht Halt, die weder eine Ahnung, noch einen Plan dafür haben, was in ihrem Land vor sich geht. Einen Einblick gibt euch dieser Teaser, in dem Marc-Uwe Kling einen Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen Tony Parteichef und Aisha Ärztin zum Besten gibt.

QualityLand 2.0 – 36,7 Prozent aller Jobs sind komplett sinnlos. Gehört deiner dazu?

Das Ende wird dich überraschen!

QualityLand 2.0: Kikis Geheimnis ist eine rundum gelungene Fortsetzung des ersten Bandes. Die ironisch-kritische Science-Fiction-Komödie greift den Zukunftsentwurf aus dem Vorgänger auf, bringt aber zugleich viele neue Ideen hinein, die das Ganze nicht nur plastischer, sondern in gewisser Weise auch erschreckend realistischer wirken lassen. Die handlungstragende Erzählung um Kiki bringt Spannung und Intrigen mit sich, die bisweilen die Atmosphäre eines klassischen Thrillers aufgreift und der Welt so eine noch unheilvollere Note verleiht. Ich persönlich empfand Kiki schon immer als sehr sympathischen Charakter und habe diesen Handlungsbogen sehr genossen.

Ganz im Stil von QualityLand spielt auch diese Fortsetzung durchgehend mit der Repräsentation unterschiedlicher Medien im Text, schaltet «Werbeanzeigen» und «Mitschnitte von Aufnahmen» zwischen die einzelnen Kapitel und wird insgesamt von unterschiedlichen, menschlichen wie nicht-menschlichen Erzählfiguren getragen. Neben der politischen Satire handelt der Roman vom gesellschaftlichen Auf- und Abstieg, von der Allgegenwart der Medien, vom Kontrollverlust der Menschen und schließlich vom Versagen jedes Einzelnen. Das mag düster klingen – ist es aber nunmal auch. Bei allem Humor und Witz empfinde ich QualityLand 2.0 als deutlich finsterer und härter als den Vorgänger. Das trifft aber wiederum erschreckend gut diverse aktuelle Themen und Entwicklungen…

Kurzum: Wenn Du den ersten Teil kennst, ein Fan von treffender, scharfzüngiger Satire bist und einen spannungsgeladenen Handlungsbogen genauso zu schätzen weißt wie gute Science-Fiction, dann ist QualityLand 2.0: Kikis Geheimnis für Dich ein absolutes Muss!

Kurz & Bündig

PositivNegativ
SchreibstilGewohnt überspitzt und flapsig ★
SpannungAufbauend ★
CharaktereIkonisch ★
SettingZukunftsnah ★
HandlungGesellschaftssatire ★

Bewertung: ★ ★ ★ ★ ★

PS: QualityLand 2.0 hat es außerdem auf diese Liste geschafft. Dort stelle ich euch zehn Autor*innen vor, deren Namen mit dem Buchstaben „K“ beginnen.


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Der Talisman

Klappentext & Content Notice

Kurzgeschichte, Fantasy

Ronja ist am Boden zerstört, als ihr Mann Johann in den Krieg ziehen muss. Ein geheimnisvoller Talisman ist ihre letzte Hoffnung. Doch die schwarze Magie birgt viele Gefahren…

[CN: Krieg, Tod]

Der Ring

Ronja spürte, wie die erste Träne ihre Wange hinablief. Energisch wischte sie sich mit dem Ärmel über ihr Gesicht. Der Abschied war schon schwer genug, heulen konnte sie auch danach. Notdürftig richtete sie ihre etwas aufgelöste Frisur, bevor sie sich zu den anderen nach draußen gesellte.

Mitten im Hof stand der Hengst Ludwig, bereits gesattelt und aufgetrenst. Johann war gerade dabei, sein restliches Gepäck in den Satteltaschen zu verstauen und mit geübten Griffen zu verschnallen. Seine Bewegungen strahlten Ruhe und Gelassenheit aus. Da Johann ihr den Rücken zudrehte, verharrte Ronja in einiger Entfernung und saugte diesen letzten Anblick ihres Mannes geradezu in sich auf. Offenbar hatte er Ronjas Anwesenheit jedoch längst bemerkt, denn als alle Riemen festgezurrt waren, drehte er sich zu ihr um und bereitete die Arme aus. Wie in Trance lief sie auf ihn zu und legte den Kopf an seine Brust.

„Versprich mir, dass du zurückkommst.“ Mit ihrer Stimme spürte Ronja ein Schluchzen in ihrer Kehle aufsteigen, das sie mit aller Kraft zurückdrängte.

„Du weißt, ich würde dich niemals allein lassen.“ Johanns Hand strich sanft über ihre Haare.
Ronja hob den Kopf an, um ihm ins Gesicht zu blicken. „Bitte nimm das. Trage ihn als deinen Talisman. Tust du das für mich?“

Mit diesen Worten drückte sie ihm einen dezent verzierten, goldenen Ring in die Handfläche. Ein zweiter Blick verriet Johann, dass es sich um ein Erbstück handelte. Es war das einzige, das seine Frau noch von ihrer viel zu früh verstorbenen Mutter besaß.

„Ronja, nein. Das kann ich nicht annehmen. Ich weiß, wie viel dir dieser Ring bedeutet. Außerdem weißt du doch, dass ich nicht an solche Dinge glaube.“

„Bitte. Wenn ich den Ring bei dir weiß, fühlt sich die Entfernung nicht ganz so groß an. Tu es deiner hysterischen Frau zuliebe.“

In Johanns Augenwinkeln zeichnete sich ein trauriges Lächeln ab. Ronja war alles andere als hysterisch. Mit diesem scherzhaften Ausdruck versuchte sie nur, ihre eigene Angst zu überspielen, das war offensichtlich. Seine Finger schlossen sich um das warme Metall. „Wenn es dir so wichtig ist, werde ich den Ring bei mir tragen.“

In der Ferne erklang ein scharfer Pfiff. Johann schloss Ronja noch einmal in die Arme und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Dann drehte er sich um und ergriff die Zügel des Pferdes.

„Der Krieg wartet nicht. Mach dir keine Sorgen, wir werden uns bald wieder sehen!“ Mit diesen Worten schwang er sich in den Sattel. In seiner Rechten hielt er noch immer den Ring seiner Frau. Er schloss seine Finger zur Faust und führte sie zu seinen Lippen, dann winkte er damit seinen Abschied.

Als sie Johan zum Tor hinausreiten sah, konnte Ronja ihr Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Es war, als würde ein Teil ihres Selbst auf dem Pferderücken sitzen.

Das Ritual

Vier Monate waren vergangen, seit ihr Gatte in den Krieg gezogen war. Ronja hatte ihren Geist mit allerlei Dingen beschäftigt, um bloß nicht in ihren Sorgen um Johann zu versinken. Umso schwerer sie tagsüber arbeitete, desto mehr Erholung verlangte ihr Körper zur Ruhezeit. Dennoch überwogen die schlaflosen Nächte, in denen sie aus schrecklichen Alpträumen hochschreckte, schweißgebadet, nur um festzustellen, dass der Schlafplatz neben ihr tatsächlich verwaist war.

Eines Nachts hielt es Ronja nicht länger aus. Der Mond stand hell am schwarzen Himmel und warf sein fahles Licht durch das Fenster aufs Bett. Die Sorgen hatten sich tief in ihr Inneres gefressen und erlaubten ihr keinen Moment der Ruhe. Unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um Johann, malten die schrecklichsten Bilder und erwarteten zugleich, dass er jeden Moment auf den Hof geritten käme.

Vom Schmerz getrieben griff Ronja nach einer kleinen, seltsam verzierten Truhe aus Ebenholz, die sie unter ihren Kleidern verborgen hatte. Ihre zitternden Finger brauchten mehrere Versuche, um den feinen Verschluss zu öffnen, doch schließlich klappte der Deckel zurück und offenbarte fünf schneeweiße Kerzen, die im Mondlicht glänzten. Vorsichtig nahm Ronja sie aus der Truhe, stellte sie in einem Kreis auf den Boden und zündete sie an. Dann griff sie nach dem silbernen Dolch, der unter den Kerzen zum Vorschein gekommen war, und legte ihn in ihre Handfläche. Sie biss die Zähne zusammen, als die scharfe Klinge ihre Haut durchschnitt. Im nächsten Moment sammelte sich das im Kerzenschein dunkelrot schimmernde Blut in den Furchen ihrer Haut und drohte, auf ihren Rock zu tropfen. Schnell presste Ronja ihre Handflächen zusammen und begann, die Kerzen mit Linien auf dem Boden miteinander zu verbinden. Zuletzt malte sie mit ihrem eigenen Blut ein Zeichen aus mehreren geschwungenen Bögen in die Mitte, bevor sie sich notdürftig einen Stofffetzen um die verletzte Hand wickelte. Sie schloss die Augen und flüsterte mit zitternder Stimme die Formel, deren Worte in ihrem Gedächtnis eingebrannt waren, obgleich sie sie noch nie laut ausgesprochen hatte.

Vor Ronjas Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen und die Wände schienen sich seltsamerweise auf sie zuzubewegen. Der Raum fing an, sich um sie herum zu drehen, immer schneller, und Ronja schmeckte bittere Magensäure auf ihrer Zunge, die Übelkeit nahm Überhand. Sie spürte noch, wie ihr gefühlloser Körper in sich zusammensackte, bevor ihr Geist in eine tiefe Finsternis hineingezogen wurde.

Im nächsten Moment blickte Ronja in das sorgenvolle Gesicht ihres Mannes. Johann kniete auf dem Boden, seine Kleidung war zerrissen und schmutzig, an einigen Stellen war zweifellos Blut eingetrocknet – hoffentlich nicht sein eigenes. Ronja hob die Hand, um sein Gesicht zu berühren, ihn zu trösten, doch sie unterbrach die Bewegung. Jeder Versuch wäre sinnlos, es war keine Berührung möglich, ebenso wenig, wie Johann sie wahrnehmen konnte, darüber war sie sich im Klaren.

Erst jetzt bemerkte Ronja, dass Johann mit leerem Blick seine Handflächen anstarrte, in denen der Ring lag, den sie ihm mitgegeben hatte. Für ihn bloß ein Talisman, für sie der Anker ihres Geistes, ohne den der Dissociationszauber nicht möglich gewesen wäre. Denn für den Dissociatio Animi benötigte die Seele stets einen Gegenstand, an den sie gebunden wurde, um zu verhindern, dass sie sich in den unendlichen Gefilden des Daseins verirrte. Ronja wusste, sie würde den Zauber nicht allzu lange aufrecht erhalten können, denn um in ihren Körper zurückzukehren, musste dieser genug Kraft aufbringen. Doch sie hatte erreicht, wofür sie gekommen war: Die Gewissheit um Johanns Leben und um seine weitgehende Unversehrtheit. Wie ein Häufchen Elend kniete ihr Mann dort auf dem Boden, die Verzweiflung sprach aus seinem ganzen Körper. Was wünschte sie sich, seine Berührung zu spüren und mit ihm zu sprechen! Doch das war schlichtweg unmöglich.

Schweren Herzens riss sich Ronja los und konzentrierte sich auf ihren eigenen Körper. Es ging leichter als erwartet und im nächsten Augenblick hob Ronja ihr blutverschmiertes Gesicht vom rauen Holzboden ihrer Schlafkammer.

Ronja war unglaublich erleichtert, dass der Zauber auf Anhieb gelungen war. Der Anblick ihres Mannes – lebendig und intakt – beflügelte ihr die darauffolgenden Tage. Von einem Teil ihrer Sorgen befreit fand sie sogar wieder etwas Erholung im nächtlichen Schlaf.

Doch die Freude wich viel zu schnell den erneuten Sorgen. Was, wenn in der Zwischenzeit etwas passiert war? Johanns Augen hatten so traurig ausgesehen… was, wenn er eine Vorahnung hatte?

So verging nicht viel Zeit, bis Ronja erneut die dunkle Truhe aus ihrem Versteck holte. Der inzwischen abnehmende Mond und eine beständige Wolkendecke machten die Nacht ungewöhnlich finster, doch die nötigen Handgriffe waren ihr inzwischen vertraut. Den Schmerz der silberfarbenen Klinge spürte sie kaum und die Beschwörungsformel ging ihr viel leichter von den Lippen als beim ersten Mal. Im Nu begrüßte sie den Strudel der Finsternis, der sie in eine andere Daseinswelt zog.

Diesmal fand sich Ronja auf einem nächtlichen Schlachtfeld wieder. Um sie herum war alles still bis auf eine kleine Gruppe von Männern, die sich inmitten der Leichenberge befanden. Ihre Augen glänzten müde im Fackelschein. Einige standen in einem zerstreuten Halbkreis um ein paar wenige herum, die auf dem Boden knieten. Der Schreck ließ Ronja erstarren, als sie erkannte, dass Johann darunter war. Die schmutzigen Gesichter der am Boden kauernden Männer waren zu schrecklichen Fratzen verzerrt, in denen sich die pure Verzweiflung spiegelte. Der Kommandant der größeren Gruppe rief etwas, doch die Worte klangen seltsam fremd in Ronjas Ohren. Als niemand reagierte, trat er Johann grob in den Rücken, sodass dieser mit dem Gesicht im Dreck landete, dann sprach er weiter.

Ronja war in ihrer Machtlosigkeit der stillen Zuschauerin erstarrt, unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Sie konnte nicht glauben, wovon sie in diesem Augenblick Zeugin wurde.

Die Ansprache des Kommandanten wurde von zustimmendem Gemurmel der Umherstehenden begleitet. Schließlich zog er sein Schwert und stellte sich hinter den ersten der auf der Erde knienden Männer. Die Klinge blitzte im Fackelschein auf, nur für einen Augenblick, und fuhr dann herunter.

Ronjas Panik brach heraus. Schreiend warf sie sich dazwischen, doch in ihrer geisterhaften Form konnte sie keinen Kontakt zu den weltlichen Geschöpfen aufnehmen.

Der Henker folgte der Reihe und im nächsten Augenblick fiel auch der Körper des zweiten Gefangenen leblos zu Boden. Ronja raste und warf sich auf den feindlichen Kommandanten, doch niemand der Männer bemerkte überhaupt ihre Anwesenheit. NEIN! NEIN! NEIN! JOHANN! NEIN! Sie wollte schreien, brüllen, doch noch immer verließ kein Laut Ronjas Lippen.

Der Anblick ihres Mannes, der hilflos zusammenbrach, nahm ihr wortwörtlich den Boden unter den Füßen. Sie fiel auf ihn und wollte sein Gesicht auffangen, ihn trösten, ihn ein letztes Mal küssen, doch ihre Hände griffen einfach durch den Körper hindurch. Nicht einmal weinen konnte sie, nur eine tiefe, dunkle, bodenlose Trauer grub sich in ihr Innerstes.

Der Schrei brach schließlich hervor und zerriss ihren Geist.

Ronja bemerkte nicht, wie sich die feindlichen Soldaten zurückzogen und die Leichen auf dem blutgetränkten Feld zurückließen. Sie bemerkte auch nicht, wie die Sonne langsam aufging und die schreckliche Szenerie in ein warmes Morgenlicht hüllte.

Der Geist

Etwa zur selben Zeit fand die Magd Ronjas geistlosen Körper auf dem Boden ihrer Kammer. Sie war nicht tot, ihre Augen waren sogar geöffnet, doch die einst so lebhafte junge Frau war nur noch eine leere Hülle. Keiner konnte wissen, dass ihr Geist noch immer ziellos auf den Schlachtfeldern umherirrte, gefangen von der Tat eines ihr unbekannten Mannes, deren ungebetene Zeugin sie geworden war.


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Dragon’s Dogma | Netflix | Review

Titel:Dragon’s Dogma
Publisher:Netflix
Produktion:Shinya Sugai, Tomohisa Nishimura, Kurasumi Sunayama
Erstveröffentlichung:17. September 2020

Dragon’s Dogma – Offizieller Trailer

Dragon’s Dogma | Official Trailer | Netflix

Dragon’s Dogma zwischen Anime & CGI

Mit der Ankündigung von Dragon’s Dogma löste Netflix im vergangenen Jahr einen großen Hype in einer kleinen Ecke der Gamingcommunity aus. Endlich nahm sich jemand dem Liebhabertitel Dragon’s Dogma an, der seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2012 immer ein Stück weit hinter den nur wenige Monate zuvor publizierten Fantasy-RPG-Meilensteinen The Elder Scrolls V: Skyrim und Dark Souls zurückstand.

Capcoms Videospiel war keine große Revolution, überzeugte aber als Action-RPG mit einer packenden Story, authentischen Quests, einem Companionsystem und einer elaborierten Kampftechnik, die sich überwiegend auf riesige Gegner stützt, an denen sich die Spieler*innenfigur unter anderem festhalten und hochklettern kann. Abgesehen von den individuellen Pawns, den nichtmenschlichen Beschützern des «Arisen», von denen einer selbst erstellt und zwei weitere von anderen Spielern «ausgeliehen» werden, verbindet Dragon’s Dogma das komplexe Erkundungs- und Questschema aus Skyrim mit Dark Souls’ anspruchsvollen und Abwechslungsreichen Kampfsystem.

So viel zur Vorlage – die Frage hier lautet nun: Kann der Netflix-Anime mit Capcoms Game mithalten? Ist der Titel auf die Fanbase zugeschnitten oder spricht er eine weite Zuschauerschaft an? Stöbert man ein wenig durch die Rezensionen im Netz, so schlagen einem überwiegend gemischte Gefühle und viel Enttäuschung entgegen. Diese Einstellung teile ich allerdings nur bedingt.

Der Protagonist Ethan, ein introvertierter junger Mann, ist im Fischerdorf Cassardis zuhause, das gleich in der ersten Folge von einem Drachen verwüstet wird – dem ersten seit über 100 Jahren! Doch der Drache ist eigentlich nur aus dem einen Grund gekommen, Ethan das Herz zu stehlen, im wortwörtlichen Sinne, was diesen zu einem «Arisen» macht. Soweit orientiert sich die Ausgangssituation beinahe Haargenau an der spielerischen Vorlage, mit dem einzigen Unterschied, dass der Avatar dort eine durch die Spielenden erstellte und personalisierte Figur ist. In der Serie wird dem Protagonisten Ethan in dieser ersten Episode mit Frau und Kind bereits alles genommen und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich mit seinem Pawn Hannah, einer Art emotionslosem Sidekick, auf einen langen Rachefeldzug zu begeben, um den Drachen letztendlich niederzustrecken und die Menschen zu beschützen. Erklärt wird das Ganze im Anime nur allerdings sehr vage, was aus der Perspektive eines Publikums, das mit dem Universum nicht schon aus dem Game vertraut ist, eher wie ein Plothole wirken mag. Der im Verlauf der Serie mehrmals wiederholte Catchphrase des Drachen dagegen bringt die gesamte Storyline auf den Punkt: «When thou peers into the dark, the dark peers into thee.»

Von der eigentlichen Heldenreise, die nun beginnt, können die Zuschauenden nur fünf kurze Episoden miterleben, bis das Duo in der finalen siebten Folge endlich dem langersehnten Drachen gegenübersteht. Im Großen und Ganzen orientiert sich die Handlung weiterhin sehr stark am Spiel, wirkt aber wie eine abgespeckte und maximal gekürzte Version davon. Die Höhepunkte der kurzen Abschnitte stellen stets die aufwändigen Kampfszenen mit zumeist riesigen Gegnern dar, welche dem Videospiel unmittelbar entsprungen zu sein scheinen. Die phrasenhaften Dialoge werden dagegen eher mechanisch abgespult und dienen primär dazu, den stereotypischen Nebencharakteren genug Charakter zu verleihen, um sie letztendlich effektvoll in ihr jeweils ganz eigenes menschliches Versagen rennen zu lassen.

Das Hauptthema der Netflix-Serie stellen schließlich die Todsünden dar, was mit einem Blick auf die Titel der sieben Episoden nicht schwer zu erkennen ist: Wrath, Gluttony, Envy, Sloth, Greed, Lust und Pride. Leider bleibt auch für die Protagonisten Ethan und Hannah selbst nicht viel authentische Persönlichkeit übrig, doch diese Tatsache fügt sich erstaunlich gut in den auch sonst überwiegend minimalistischen Stil des Animes. Die Dynamik zwischen den beiden und ihre jeweilige Charakterentwicklung sind zwar vorhersehbar und spitzen sich auf das Finale hin zu, tragen aber gewissermaßen die gesamte Handlung und sorgen auf diese Weise für den notwendigen Grad an Unterhaltung.

Das Auffälligste – und auch zuhauf Kritisierte – an Netflix’ Dragon’s Dogma ist die Mischung eines klassischen, sehr kargen Anime-Zeichenstils mit sogenannter Computer Generated Imagery (CGI), also der computerbasierten Generierung von 3D-Elementen, wie sie in Videospielen üblich ist. Diese wird in der Serie in erster Linie eingesetzt, um die monsterhaften Gegner darzustellen. Wer das Spiel kennt, erlebt hier zahlreiche Déja-vus, denn ob Zyklop, Greif, Lich oder der Drache selbst, alle entstammen sie präzise der Gaming-Vorlage, was nicht nur CGI und Graphik, sondern auch Details wie bestimmte körperliche Merkmale einschließt. Viele mögen hier die im Gesamten uneinheitlich und mitunter klobig wirkenden Animationen kritisieren. Ich selbst sehe darin allerdings eine gewagte, aber durchaus gelungene Synthese zweier Medien, die mich als Zuschauende immer wieder in Momente des Spiels zurückversetzt – und das rein über die visuelle Darstellung. Nicht zuletzt spielt an diesem Punkt der finale Kampf mit dem Drachen eine maßgebliche Rolle, der beinahe die gesamte letzte Folge vereinnahmt und in den verschiedenen erzählerischen Abschnitten detailgenau den spielerischen Endkampf wiedergibt.

Wird Netflix‘ Dragon’s Dogma der Vorlage gerecht?

Die kurze Antwort auf die Frage, ob Netflix’ Dragon’s Dogma der Spielvorlage gerecht wird, lautet: Nein.

Doch eine solch einfache Feststellung kann der Frage niemals gerecht werden. Schließlich stellt sich mit dem Videospiel und der Webserie der Vergleich zweier Genres, die kaum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Wo sich Capcoms Game durch seinen hohen Grad an Interaktion, seine komplexe Story und das ausgearbeitete Kampfsystem auszeichnet, wählten die Entwickler der Serie einen völlig anderen Ansatz. So spielt das menschliche Versagen zwar auch im Spiel eine ganz grundlegende Rolle, wird in der Serie jedoch zum tragenden Thema. Jede Folge ist einer Sünde gewidmet, was stets einen schalen, bedrückenden Nachgeschmack hinterlässt. Aber: Genau darin liegt das Potential des Animes.

Trotz der einfachen Erzählstrukturen und stereotypischen Charaktere entsteht eine Atmosphäre, welche die menschliche Gesellschaft erschreckend treffend widerspiegelt. Die Handlung folgt bei aller Simplizität einem kohärenten Erzählstrang mit klassischem Spannungsbogen. Dabei verfügen die Charaktere der Protagonisten zwar über nicht sonderlich viel Tiefe, wirken aber dennoch durchaus sympathisch, was schließlich auch ihre persönlichen Konflikte greifbar werden lässt. Wer außerdem das Game kennt, wird auch den unwiderruflichen Twist der Serie schnell erahnen können – dennoch verleihen die Entwickler den Figuren zum Ende hin genug Eigendynamik, um ihnen ein erinnerungswertes Finale zu verpassen.

Im Gesamten ist Dragon’s Dogma auf jeden Fall sehenswert, unabhängig davon, ob man sich zur Fanbase des Videospiels zählt oder mit dem Universum noch nicht vertraut ist. Es handelt sich bei Dragon’s Dogma um alles andere als leichte Kost, denn bei aller Einfachheit werden sehr düstere und ernste Thematiken angesprochen. Letztendlich wird das Publikum von der minimalistischen Handlung allgemein und vom Drachen explizit dazu aufgefordert, die eigenen Abgründe und die Dynamik des menschlichen Zusammenlebens zu hinterfragen. Dies mag zwar aus einer philosophischen Sicht relativ banal sein, regt aber nichtsdestotrotz zum Nachdenken an.

When thou peers into the dark, the dark peers into thee.

Kurz & Bündig

PositivNegativ
ErzählstilMinimalistisch ★
SpannungRelativ vorhersehbar ☆
CharaktereStereotypisch ☆
SettingNostalgisch ★
HandlungEinfach, aber ansprechend ★

Bewertung: ★ ★ ★ ☆ ☆


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„Truly Devious“ von Maureen Johnson | Rezension

Titel der Reihe:Truly Devious / dt: Ellingham Academy
Buchtitel:#1 Truly Devious (2018) / dt: Was geschah mit Alice?
#2 The Vanishing Stair (2019) / dt: Die geheimnisvolle Treppe
#3 The Hand on the Wall (2020)
Autorin:Maureen Johnson
Verlag:Harper Collins / dt: Loewe

A Truly Devious Blurb | Klappentext

Buchcover: Truly Devious by Maureen Johnson
Truly Devious by Maureen Johnson

Ellingham Academy is a famous private school in Vermont for the brightest thinkers, inventors, and artists.

It was founded by Albert Ellingham, an early twentieth century tycoon, who wanted to make a wonderful place full of riddles, twisting pathways, and gardens. «A place,» he said, «where learning is a game.»

Shortly after the school opened, his wife and daughter were kidnapped. The only real clue was a mocking riddle listing methods of murder, signed with the frightening pseudonym «Truly, Devious.» It became one of the great unsolved crimes of American history.

True-crime aficionado Stevie Bell is set to begin her first year at Ellingham Academy, and she has an ambitious plan: She will solve this cold case. That is, she will solve the case when she gets a grip on her demanding new school life and her housemates: the inventor, the novelist, the actor, the artist, and the jokester. But something strange is happening. Truly Devious makes a surprise return, and death revisits Ellingham Academy. The past has crawled out of its grave. Someone has gotten away with murder.


Willkommen in der Ellingham Academy!

Versteckt in den Bergen Vermonts ist die Privatschule der ideale Ort für die begabtesten Schüler des Landes – Bestsellerautoren, YouTube-Stars, Künstler, Erfinder. Doch das Internat umgibt eine tragische Geschichte. Vor mehr als 80 Jahren wurden Frau und Tochter des Schulgründers entführt. Genau deshalb wird Stevie Bell an der Akademie aufgenommen: Sie soll die bisher ungeklärte Ellingham-Affäre lösen.

Und schon bald erhält sie eine mysteriöse Botschaft, die einen Mord ankündigt. Als ein Schüler kurz darauf tot aufgefunden wird, ist Stevie überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem Todesfall und den Verbrechen aus der Vergangenheit gibt.

Stevie Bell ist großer Fan von Sherlock Holmes und Agatha Christie. Aber noch viel mehr begeistern sie reale Kriminalfälle – wie die bisher ungelöste Ellingham-Affäre. Als Schülerin der exklusiven Ellingham Academy kann sie endlich selbst am Schauplatz der legendären Entführung ermitteln. Doch als ein Mitschüler ums Leben kommt, muss Stevie nicht nur das Verbrechen von damals aufklären.

The Vanishing Opinion | Meinung

Buchcover: The Vanishing Stair by Maureen Johnson
The Vanishing Stair by Maureen Johnson

Erst Anfang dieses Jahres, 2020, erschien der dritte Teil von Maureen Johnsons Truly Devious–Reihe unter dem Titel The Hand on the Wall. Zu meinem eigenen Glück war es auch erst kurze Zeit später, dass ich durch die Lektüreempfehlung einer Freundin überhaupt auf diese faszinierende Reihe gestoßen bin. Denn: Wer Spannung sucht, wird hier mehr als fündig. Ich habe alle drei Bände in nur wenigen Tagen verschlungen und war so gebannt, dass ich sie kaum aus der Hand legen konnte.

Truly Devious ist ein Mystery-Krimi, der sich stilistisch ganz klar an den Klassikern à la Arthur Conan Doyle und Agatha Christie orientiert. Dieses Motiv durchzieht die Erzählung auch inhaltlich als dicker, roter Faden, denn die überaus sympathische Protagonistin Stevie ist nicht nur selbst ein True Crime-Nerd, sondern eifert auch ganz offen den legendären Detektiven Sherlock Holmes und Hercule Poirot nach. Und natürlich dreht sich alles um einen legendären und ungelösten Kriminalfall, ein Mysterium, das in den 30er und 40er Jahren das ganze Land in Atem hielt – und dem sich Stevie mit ganzem Herzen verschrieben hat.

Doch um überhaupt erst in die Nähe des historischen Tatortes zu gelangen, einer legendären Eliteschule tief in den Bergen Vermonts, muss sich die High School-Schülerin erst einmal für ebenjene Schule qualifizieren. Glücklicherweise ist es das Paradigma der Ellingham Academy, nicht nur die besten, sondern die herausragendsten Jugendlichen aufzunehmen, völlig unabhängig von deren finanziellem, gesellschaftlichem oder kulturellem Hintergrund.

Spätestens hier offenbart sich, wie umfassend die Diversität in der Romanreihe vertreten ist. Die bunte Truppe an Schüler*innen, die sich inmitten dieses idyllischen Schauplatzes versammelt, setzt sich einerseits aus allen erdenklichen Charakterzügen und Eigenschaften zusammen, und zwar von der absoluten Intro- bis zur exzessiven Extroversion, von Technik-Genies bis zu angehenden Schauspielenden und vom IT-Geek (David) über die schräge Künstlerin (Ellie) bis zum eigenbrötlerischen Autor (Nate), der allerdings unter einer Schreibblockade leidet. Nein, auch sämtliche Behinderungen, geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen sowie kulturelle Hintergründe haben ihren Platz in Ellingham. So hadert nicht nur Stevie selbst immer wieder mit ihrem weiblichen Körper, auch ihre beste Freundin Janelle ist Schwarz, lesbisch und in einer Beziehung mit der nichtbinären Vi. An dieser Stelle könnte man jede einzelne Figur beleuchten. Dabei herrscht unter allen Bewohnenden der Schule ein herzliches und inklusives Miteinander, denn alle verbindet eine aufopferungsvolle Hingabe zu einer bestimmten Sache, die sie über alle Maßen fasziniert – sei dies Literatur, Technik, IT, Kunst, Journalismus, Medizin oder, oder, oder…

Das Stichwort der Diversität umfasst allerdings noch mehr: Auch das neurodiverse Spektrum wird in Truly Devious abgedeckt. Stevie selbst leidet etwa unter heftigen Panikattacken, die sie bisweilen sogar mit starken Medikamenten behandeln muss, ist außerdem sehr introvertiert und hat eine offensichtliche Sozialphobie. In der Ellingham Academy gelingt es ihr mit Janelle, Vi, Ellie, Nate und David zum ersten Mal in ihrem Leben, richtige, tiefe Freundschaften aufzubauen. Dies liegt nicht zuletzt an der grundlegenden Fähigkeit aller, jedweden Eigenschaften mit einer normalisierenden Natürlichkeit zu begegnen. Denn jede*r Einzelne hat seine eigenen Ecken und Kanten, Probleme, Ängste, Wünsche, Hintergründe und Geheimnisse, was jedem Charakter in der Erzählung eine unbeschreibliche Komplexität verleiht.

Mit dem malerischen Setting und der bunten Besetzung ist der Rahmen abgesteckt, in dem sich das eigentliche Mysterium verbirgt: Das Verschwinden der Tochter des Schulgründers Albert Ellingham und die Morde an dessen Ehefrau sowie der Schülerin Dolores Epstein im Jahr 1936. Ein mittelmäßig gereimter Drohbrief, den Ellingham kurz vor der Tat erhielt, ist mit dem mysteriösen Pseudonym «Truly, Devious» unterschrieben, der gesamte Fall bis heute ungeklärt. Ganz im Stil eines klassischen Mysterykrimis beginnt das große Rätselraten und Kombinieren aus der Perspektive der selbsternannten Detektivin Stevie, die zwischen ihrer Rolle als Schülerin und ihrer Obsession des Truly Devious-Falles hin und her jongliert. Eine Mischung, die so authentisch wirkt, dass die Identifikation mit der jungen Protagonistin auf ganzer Linie spielend leicht fällt.

Was der Romanreihe jedoch eine Extraportion Würze verleiht – und sie ganz nebenbei von den klassischen Gattungsvertretern abhebt –, ist der zweite, historische Erzählstrang. Die chronologisch voranschreitenden Abenteuer und Erlebnisse Stevies in der Gegenwart werden nämlich immer wieder von Erzählschnipseln unterbrochen, in denen die Lesenden die Geschehnisse von der Gründung der Ellingham Academy bis zum Tod Albert Ellinghams aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der beteiligten Personen miterleben. So macht sich nicht nur die kombinationsstarke Protagonistin Stevie daran, das Mysterium nach und nach aufzuklären, sondern auch die Lesenden werden durch die lückenhaften Überlieferungen dazu angeregt, die Hinweise zusammenzufügen und das Rätsel zu lösen. Die Spannung spitzt sich dabei zu, als neben dem historischen Verbrechen auch Stevies eigene Realität von einer mysteriösen Reinkarnation Truly Devious’ auf den Kopf gestellt wird.

The Hand on the Conclusion | Fazit

Buchcover: The Hand on the Wall by Maureen Johnson
The Hand on the Wall by Maureen Johnson

Selten habe ich ein derartig ausgearbeitetes, fesselndes Mysterium erlebt, das gleichzeitig durch ein malerisches Setting und eine komplexe, vielschichtige Handlung mit überzeugenden Protagonisten besticht. Trotz der ansehnlichen Dicke der Bücher – insgesamt über 1.000 Seiten – gibt es absolut keine «Durststrecken» – ganz im Gegenteil! Die Kombination aus dem historischem mit dem aktuellem Mysterium und der konkreten Bedrohung durch einen nicht weniger mysteriösen Verbrecher, welche die bunte Truppe der ganz gewöhnlichen und zugleich absolut einzigartigen Charaktere in Atem hält, schafft eine unbeschreiblich dichte und packende Atmosphäre.

Truly Devious hat mich insgesamt völlig geplättet – auf die positive Art. Ich konnte die Romane kaum aus der Hand legen und habe nicht nur mitgeknobelt, sondern beim Lesen wortwörtlich mitgefiebert. Und das Beste: Der vierte Band der Reihe wird unter dem Titel The Box in the Woods voraussichtlich im April 2021 erscheinen!

Damit kann ich guten Gewissens eine absolute Leseempfehlung für Maureen Johnsons Truly Devious-Reihe aussprechen.

Kurz & Bündig

PositivNegativ
SchreibstilPackend ★
Spannung100% ★
CharaktereÜberzeugend ★
SettingMalerisch ★
HandlungKomplex ★

Bewertung: ★ ★ ★ ★ ★


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Ich 2.0

Klappentext & Content Notice

Kurzgeschichte, Science-Fiction

Ein ganz normaler Familienvater. Ein Angebot zur Teilnahme an einem medizinischen Experiment, hervorragend vergütet. Doch als seine Welt völlig aus den Fugen gerät, bleibt ihm nur mehr eine einzige Frage: Wer bin ich?

[CN: Tod, Mord, Depression]

„Was für eine Schweinerei… was haben Sie gefunden?“

„Eine Art Abschiedsbrief.“

„Geben Sie schon her!“

The eye, like a shattered mirror, multiplies the image of sorrow.

Edgar Allen Poe

Ja, bereits Edgar Allen Poe hatte diese perverse Faszination, ein Gespräch mit einem Totgeweihten zu führen. Dazu habe ich nicht getaugt… es wurde mehr so ein Selbstgespräch. Nein, eine Botschaft… an die Menschheit:

Wir sind zu weit gegangen!

Kaum zwei Wochen ist es her, mein Leben war einfach. Bestimmt vom Alltag, von der immergleichen Routine: Meine Frau, die Tochter und der Sohn, beide gerade im Schulalter, mein Job, fünf Tage die Woche im Büro, 8 bis 17 Uhr. Doch dann fiel mir dieser Flyer in die Hände. Und, was soll ich sagen? Ich bin käuflich, ein Bänker durch und durch, und die gebotene Summe war gigantisch. Natürlich meldete ich mich dort und wurde prompt in dieses Programm aufgenommen. Worum es ging? Das wusste ich derzeit noch nicht, Top Secret haben sie es genannt.

Die Formalitäten gingen sehr schnell, ein Vertrag vor die Nase, eine Unterschrift und schon bugsierten sie mich in ein Gerät, das mich an einen Kernspintomografen erinnerte. Sie sagten mir, mein ganzer Körper müsse gescannt werden. Im Anschluss daran setzten sie mich vor eine blassgelbe Wand und ließen mich warten. Lange. In der Zwischenzeit hörte ich mich selbst reden, meine eigene Stimme in einem angrenzenden Zimmer, wie sie auf diverse Fragen antwortete. Es war ein komisches Gefühl und – bei Gott! Es verwirrte mich völlig. Hatten sie meine Stimme mit diesem Gerät kopiert? Ich erinnerte mich, beim flüchtigen Durchblättern etwas in dieser Art in dem Vertrag gelesen zu haben… wie ich bereits meine eigene Ignoranz bereute! Doch die Tür war verschlossen und mein Klopfen und meine Rufe sollten erst nach einer gefühlten Ewigkeit beantwortet werden…

Drei Tage lang verbrachte ich daraufhin in einer Art Krankenbett und wartete auf meine Entlassung. Wie sich herausstellte, hatte ich seit der Untersuchung merkwürdige motorische Schwierigkeiten, war ungelenk, und auch meine Stimme hörte sich komisch an, häufig kamen die Worte anders aus meinem Mund, als ich wollte. Ein Mann in einem weißen Mantel, offensichtlich irgendein Arzt, kam immer wieder zu mir ans Bett und stellte mir seltsame Fragen, zu meinem Leben, meiner Familie, meinen Gewohnheiten. Schließlich erklärte er mir beinahe überschwänglich, er könne es kaum fassen, es habe nach all den Versuchen endlich funktioniert!

Ich fragte nicht nach, was es denn nun eigtentlich sei. Inzwischen war mir so ziemlich alles egal, ich wollte nur noch nach Hause. Den Arzt hatte ich eindringlich gebeten, meine Frau zu informieren, denn mir selbst wollten sie kein Telefon geben, mein Handy hatte ich vor der Untersuchung abgelegt und bislang nicht wieder bekommen. Ich erwartete, dass sie mich besuchen kommen würde, doch ich sah und hörte nichts von ihr. Top Secret. Ich durfte also tatsächlich gehen und verlangte natürlich mein Geld – wenn mir etwas nach alldem zustand, dann ja wohl das! Die Reaktion dieser Idioten auf meine Forderung war jedenfalls lautes Gelächter. Ich bestand auf den Vertrag und erklärte, dass ich jederzeit bereit wäre, mein Recht auch gerichtlich einzufordern, doch ehe ich mich versah, stand ich einfach auf der Straße. An einer belebten Kreuzung, jedenfalls nicht da, wo ich vor drei Tagen geklingelt hatte. Wie genau ich dorthin kam, bleibt mir bis heute ein Rätsel, das Gelächter der Leute aus dem Versuchslabor noch immer in den Ohren. Der Versuch meine Frau anzurufen scheiterte bereits daran, dass sie mir mein Handy auch nicht wiedergegeben hatten, als sie mich vor die Tür setzten. Nach kurzer Überlegung und einem Blick auf die Uhr an der nächsten Bushaltestelle entschied ich mich, im Büro vorbeizuschauen. Das war kein weiter Fußweg und – wie sollte es auch anders sein – vermisste ich ebenfalls meine Geldbörse. Sonst war eigentlich noch alles gut, bis ich aus dem Aufzug stieg und plötzlich mir selbst gegenüber stand.

Es war kein Spiegel, sondern ein echter Körper, ein lebensgroßes Abbild, das mir glich wie ein Ei dem anderen. Diese Bastarde haben doch tatsächlich meinen Körper und mein Gehirn kopiert und in so eine Blechbüchse eingebaut. Sowas nennt sich dann wohl Android. Jedenfalls, man kann es sich denken, war es weder mir noch ihm möglich die, nennen wir es irritierten, Blicke der Kollegen zu ignorieren. Es folgte ein Gespräch mit mir selbst und ich fragte mich, ob ich selbst wirklich so dumme Antworten gebe, ständig mit meiner Hand über den Nacken fahre, mit den Füßen zapple und praktisch permanent an meinem Gesprächspartner vorbei starre. Binnen weniger Sekunden musste ich feststellen: scheiße, ja. Jedenfalls hatte mich dieses verdammte Stück Plastik die letzten drei Tage ersetzt, niemand hatte etwas gemerkt – noch nicht einmal meine Frau! Im Gegenteil, die empfand es wohl sogar als nötig, es mit dem Ding zu treiben. Meine Kinder hatten damit gespielt und sich abends etwas vorlesen lassen. Ihr werdet es mir nicht glauben, aber ich musste mir doch eingestehen, dass die Kopie wahrlich gelungen war. Ständig redeten wir zur selben Zeit, wählten sogar dieselben Worte. Meine erste Reaktion, voller Empörung vom Büro nach Hause zu laufen, teilte dieses Ding und es kennt sogar meine Kontonummer samt Geheimzahl – und hat doch tatsächlich meine vermisste Geldbörse inklusive aller Dokumente und Karten! Diese verdammten, unfähigen Idioten!

Als ich schließlich doppelt vor meiner Frau stand, offenbarte sich – endlich! – ein Unterschied in unserem Verhalten: Während das Ding unsicher vor sich hin stammelte und offensichtlich nicht mit dieser neuen Situation umzugehen wusste, regte sich in mir ein Zorn von völlig ungekannter Intensität. „Hure“, schimpfte ich sie und gab ihr die Schuld an allem. So ist es nicht verwunderlich, dass das verdammte Ding und ich uns letztendlich in einem Hotel wiederfanden. In demselben Hotel, wenigstens in unterschiedlichen Zimmern, hatte ich doch rechtzeitig geschaltet und der Rezeption einen falschen Namen genannt. Eine Woche lang versuchten wir, uns eine Art Alltag aufzubauen. Ich wollte auf jeden Fall verhindern, dass das beschissene Ding mir mein Leben klaut, doch es ließ nicht locker, verhielt sich wie ich. Also arrangierten wir uns mit dem Job, berieten abwechselnd die Kunden und versuchten, uns möglichst nie gemeinsam mit anderen Leuten im selben Raum aufzuhalten. An dieser Stelle muss ich eingestehen, der konnte das wirklich gut. Sie scheinen ihm meine ganze berufliche Erfahrung eingepflanzt zu haben, denn kein einziges Mal hätte ich anders reagiert. Wenn auch unfreiwillig, konnte ich nun beobachten, wie ich auf andere wirke, wie es ist mit mir zu diskutieren, welche Ticks ich habe – und wie unfassbar austauschbar ich bin.

„Herr Kommissar?“

„Ja?“

„Das Labor hat angerufen, die wollen Sie sprechen.“

„Sagen Sie ihnen, ich rufe gleich zurück.
Ich muss das hier erst noch zu Ende lesen.“

Depressionen sind hinterhältig. Plötzlich sind sie da und reißen einen in ein Loch, tief und schwarz und ohne Entkommen. Ich kann so nicht weiterleben. Alles, was ich war, ist vor meinen Augen verblasst, nichts ist mir geblieben außer der Einsicht, wie widerlich ich mich verhalten habe und es noch immer tue. Das Ding muss weg. Da ich diesen Gedanken habe, muss es ihn wohl auch haben. Natürlich hat es ihn. Es reicht nicht, an einen anderen Ort zu gehen, es würde mir folgen und mich einholen, das ist mir nun bewusst. Ohne Entkommen. Naja, eine Möglichkeit. Ich muss es beenden, bevor es es tut. Aber wie kann ich mich selbst hintergehen?

Es ist gar nicht so schwer: Eine kurze Nachricht, die mich allen Zorn vergessen lässt. Eine Nachricht von einer Person, die ich glaubte zu lieben. Ich besorge mir eine Waffe von der Abfindung für die Teilnahme an dem Experiment. Das Geld ist wirklich auf meinem Konto und es reicht für eine schöne kleine 44er auf dem Schwarzmarkt. Mit der bedrohlichen Waffe am Kopf bleibt meiner ach so weinenden und flehenden Frau nichts anderes übrig, als das Ding anzurufen und unter einem Vorwand zu bitten, nach Hause zu kommen. Die Wartezeit verging im Fluge bis die Klingel ertönt. Sie öffnet schluchzend die Tür und fällt ihm doch tatsächlich in den Arm. Ich drücke ab, immer und immer wieder, bis die Waffe nur noch ein metallisches Klicken von sich gibt. Da liegen sie beide auf den hellen Fließen, in einer sich rasch ausbreitenden Blutlache: Das Ding, das ich sein wollte, und diese verräterische Schlange, die sich für dieses Etwas entschieden hat.

Das war es. Meine Familie. Zerstört. Mein Leben. Vorbei.

Und ich ?

„Herr Kommissar?“

„Was ist denn, verdammt?!“

„Das Auge! Solange es leuchtet, zeichnet es alles auf.“


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Herzlich Willkommen!

Ihr Lesenden, Blogsurfenden, Interessierten, Bummelnden,

Ihr Algorithmen und Webcrawler,

Herzlich willkommen auf Pawstorms!

Pawstorms | Der Blog der guten Geschichten

Nun habt ihr also diesen bescheidenen, kleinen Blog gefunden. Vielleicht habt Ihr auf einen Link geklickt, vielleicht ist er in Euren Suchergebnissen aufgetaucht, vielleicht seid Ihr auch nur aus Versehen hier gelandet, habt Euch vielleicht sogar verklickt. Fakt ist: Nun seid Ihr hier. Doch was ist dieses «Hier» eigentlich? Wo seid Ihr da gelandet? Pawstorms steht darüber, das ist kaum zu übersehen, und eine Pfote ziert das Favicon Eures Browsers. Aber was soll das alles überhaupt bedeuten? Und was wird Euch hier in Zukunft erwarten?

Fangen wir von vorne an.

Paw… – was?

Zwei junge Kater sitzen elegant nebeneinander und blicken in die Kamera.
Mephisto und Luzifer

Pawstorms, oder auch Paw und Storms, das sind wir, die beiden Gründer*innen des Blogs. Wir lieben Katzen, besonders unsere beiden Teufelskater Mephisto und Luzifer. Was noch? Natürlich Geschichten. Geschichten aller Art, und zwar in den unterschiedlichsten Erzählformaten, dort sind wird zuhause. Ob Bücher, Hörbücher, Filme, Serien, Spiele, irgendwas dazwischen oder alles auf einmal, das ist unser Terrain. Geschichten erfinden, erzählen und erleben – um diese Stichworte dreht sich Pawstorms. Seid gespannt!

Geschichten

If there’s a book that you want to read, but it hasn’t been written yet, then you must write it.

Toni Morrison

Ich habe es bereits erwähnt, oder? Wir lieben Geschichten. Und ganz nach Toni Morrisons Motto schreiben wir sie auch gerne selbst. An dieser Stelle geht unser Dank an die wunderbare Community von Belletristica, die es schon tausend Mal geschafft hat, uns zu inspirieren. Ganz in diesem Sinne findet Ihr unter der Kategorie Geschichten unsere eigenen Erzählungen, Gedichte, Fiktionen. Unsere Lieblingsgenres sind Fantasy und Science-Fiction, Krimis und Thriller, aber in unseren Texten probieren wir gerne die unterschiedlichsten Themen und Schreibstile aus.

Gedanken

Als wäre das Fiktionale nicht schon genug, widmen wir uns in der Kategorie Gedanken auch noch der Realität. Dieser Themenbereich ähnelt am meisten dem klassischen Format eines Weblogs und versammelt alles, was uns gerade so beschäftigt. Die Artikel können sich auf die Kreativ- beziehungsweise die Buchbranche beziehen, müssen es aber nicht unbedingt. Auch gesellschaftskritische Gedanken und Kommentare zu aktuellen Geschehnissen und Erlebnissen könnt Ihr hier mitverfolgen. Und selbstverständlich seid ihr auch herzlich dazu eingeladen, eure eigene Meinung in den Kommentaren zu hinterlassen!

Rezensionen

Puh, da haben wir uns ja schon ganz schön viel vorgenommen. Aber halt! Das Wichtigste, das Essentielle eines richtigen Buchblogs fehlt doch noch: die Rezensionen! Diese Kategorie spricht eigentlich für sich. Hier findet Ihr unsere Meinungen und Bewertungen zu Büchern, Filmen, Serien, Spielen… einfach allem, was uns so unterkommt. Denn wir lieben es, stundenlang über Geschichten zu debattieren, die wir gelesen, gehört, gesehen oder gespielt haben. Noch mehr Spaß macht es, unsere Ideen mit Euch zu teilen. Aus diesem Grund seid Ihr auch hier – wie eigentlich überall – herzlich zum Mitdiskutieren eingeladen.

Pawstorms

Jetzt wisst Ihr eigentlich schon alles Wesentliche über uns. Zwei Nerds, die es sich in den Kopf gesetzt haben, ihre Texte und Gedanken unter einem eigenen Namen mit der Welt zu teilen. Das Blogprojekt Pawstorms ist aus dieser Idee heraus entstanden. Es handelt sich um ein Experiment, das in erster Linie eine Herzensangelegenheit ist. Deswegen werden Werte und Ideale bei uns großgeschrieben. Das bedeutet konkret, dass hier wirklich nur jenes veröffentlicht wird, hinter dem wir auch zu 100 Prozent stehen. Dabei ist es uns oberste Priorität, alle Menschen gleichermaßen anzusprechen und einzuschließen, verstehen uns als Teil und Ally der queeren Community und legen außerdem großen Wert auf Accessibility und Inklusion. Wir fordern Euch, liebe Lesende, explizit dazu auf, uns auf Fehler und Ungenauigkeiten hinzuweisen, die in irgendeiner Weise diskriminierend wirken, dies ist niemals unsere Absicht. Auch geben wir uns Mühe, unsere Texte mit Contentwarnungen [CW] zu versehen – auch hier lassen wir uns gerne belehren.

In diesem Sinne wünschen wir Euch viel Spaß und gute Unterhaltung auf Pawstorms und verabschieden uns mit den herzlichsten Grüßen – passt auf Euch auf!


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