Buchdeckel sowie kunstvolles Cover der "Stunde der Spezialisten" von Barbara Zoeke. Zu sehen ist ein surreal angehauchtes Bild, mit einem NS-Arzt im Zentrum, darum herum verschiedene Gegenstände, wie Krankenhausbetten, Lehrbücher und eine Waage.

„Die Stunde der Spezialisten“ von Barbara Zoeke | Rezension

Titel:Die Stunde der Spezialisten
Autorin:Barbara Zoeke
Veröffentlichung:September 2017
Verlag:Die Andere Bibliothek

Klappentext

Es ist die Stunde der Spezialisten, wenn der Größte Feind der Wahrheit nicht die Lüge ist, sondern die Überzeugung.

NS-Deutschland 1940: Max Koenig ist Professor für Kunstgeschichte. Die Diagnose eines ererbten Nervenleidens, das einmal der «Schwarze Gast» hieß, reißt ihn aus seiner Karriere und fort von seiner italienischen Frau und der kleinen Tochter.

Empathisch dun erschütternd klar: Barbara Zolke gibt den Opfern und Tätern eines der verdrängten Verbrechen der Nationalsozialisten eine literarische Stimme – eine «Litanei auf die Farbe Schwarz».

Eine Frau, die auszog, das Fürchten zu lehren

In der Laudatio zu Ehren Barbara Zoekes im Rahmen der Verleihung des Gebrüder-Grimm-Preises der Stadt Hanau nannte der Redner Andreas Platthaus sie eine Frau, «die auszieht, das Fürchten zu lehren.» Der im August 2017 erschienene historische Roman Die Stunde der Spezialisten ist in der Tat keine leichte Kost. Denn die Erzählung stützt sich auf ein Thema, das in der Nachkriegszeit fast vollkommen tabuisiert und neben der umfangreichen historischen wie literarischen Aufarbeitung der Shoah beinahe vergessen wurde. Und das, obwohl im Rahmen der eugenischen «Säuberungsaktion» mehr als 200.000 Morde an physisch und psychisch Kranken verübt wurden, wovon etwa ein Drittel allein der nach der damaligen Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 «T4» benannten «Euthanasie»-Aktion zum Opfer fiel. Die habilitierte Psychologin Zoeke wählt zu diesem Zweck einen nüchternen literarischen Stil und lässt, eingebettet in einen Rahmen aus historischen Geschehnissen, Orten und Persönlichkeiten, zwei fiktive Charaktere jeweils ihre Geschichte erzählen. Auf der einen Seite begleiten die Lesenden den Altphilologen Max Koenig, der an der Erbkrankheit Chorea Huntington leidet und 1941 im Zuge der genannten Aktion ermordet wird, auf der anderen Seite den Chefarzt der Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg, Friedel Lerbe, Mitglied der NSDAP und der SS.

Buchdeckel der "Stunde der Spezialisten" von Barbara Zoeke. In den Karton eingestanzt ist die Silhouette eines Krankenhausbetts.
Buchdeckel „Die Stunde der Spezialisten“

Zu Beginn der Stunde der Spezialisten wird der Universitätsprofessor Koenig nach einem Zusammenbruch in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort stellt sich heraus, dass das erbliche und unheilbare Nervenleiden, das seinen eigenen Vater im fortgeschrittenen Stadium in den gemeinsamen Selbstmord mit dessen Frau getrieben hatte, nun auch bei ihm selbst ausgebrochen ist. In den Wittenauer Heilstätten trifft er auf die Stationsschwester Rosemarie, die ihm mit allen ihr zu Verfügung stehenden Mitteln zu helfen versucht, und freundet sich mit dem psychisch angeschlagenen Studienrat Dr. Carl Hohein, der jungen, vom «Heldentod» ihres Vaters auf dem Schlachtfeld traumatisierten Musikerin Fräulein Elfie und dem an Trisomie 21 leidenden Jungen Oscar an. Die «Währung» auf der Pflegestation misst sich in Nahrung, der Wert der Insassen an deren Arbeitskraft.

Während Hohein in der Kriegsindustrie zu arbeiten vermag und aus diesem Grund nicht unmittelbar von der Tötungsaktion bedroht ist, gelingt es den Freunden, Elfie als Hausmädchen in die Sicherheit der Familie von Koenigs Schwägerin Catja zu vermitteln, der Frau des hochrangigen NS-Beamten Gernoth von Trabitz. Koenig selbst und Oscar dagegen werden schließlich in die Tötungsanstalt Bernburg verlegt, wo der Chefarzt Lerbe persönlich den Gashahn aufdrehen wird – ein Neffe Gernoth von Trabitz’ und flüchtiger Bekannter Koenigs. Der neben seinem älteren Bruder erfolglose Friedel Lerbe sieht in der «Euthanasie»-Aktion eine Gelegenheit, endlich als Arzt Karriere zu machen. Als fanatischer Verfechter der Rassenhygiene trägt er seine geheime Verantwortung mit Stolz und führt seine Aufgaben mit akribischer Sorgfalt durch. Mit seinem Team an Pflegern, Technikern und Leichenbrennern sorgt er dafür, dass die eingelieferten «Patienten» verschwinden, ohne bei den Angehörigen Misstrauen zu wecken. Zu diesem Zweck studiert er allerlei Krankheiten mit möglichem tödlichem Verlauf und fertigt gar eine offizielle ausführliche Auflistung und Kategorisierung möglicher Alibi-Todesursachen an.

Die Geister, die Zoeke rief

Die Autorin Barbare Zoeke legt in Die Stunde der Spezialisten Wert darauf, ihre beiden Protagonisten Koenig und Lerbe aus der bürgerlichen Mittelschicht stammen zu lassen. Beide werden als ambivalente Charaktere portraitiert, die an bestimmte Werte und Ideale glauben, Überzeugungen teilen und sich auch vor bestimmten Dingen verschließen, sie nicht sehen oder verstehen wollen: Es handelt sich ausdrücklich nicht um eine klassisch-literarische Paarung aus herausragendem Helden und „bösem“ Antihelden, sondern um vollkommen gewöhnliche, dem Alltag entsprungene Personen. Zoeke konzipierte den Roman zweifelsfrei für Lesende, welche in etwa dem gesellschaftlichen Stand der handelnden Figuren entsprechen. So wird ein gewisser Bildungsgrad vorausgesetzt, um einzelne größere Ereignisse der NS-Zeit einordnen zu können. Dazu wird der Roman durch einen ausführlichen Anhang ergänzt, der nicht nur die handelnden Figuren, sondern in einem Glossar auch medizinische sowie historische Details erklärt und prägende Persönlichkeiten vorstellt.

Kunstvolles Cover der "Stunde der Spezialisten" von Barbara Zoeke. Zu sehen ist ein surreal angehauchtes Bild, mit einem NS-Arzt im Zentrum, darum herum verschiedene Gegenstände, wie Krankenhausbetten, Lehrbücher und eine Waage.
Buchcover „Die Stunde der Spezialisten“

Darüber hinaus ist Die Stunde der Spezialisten auf eine beiläufige Art höchst aktuell. Selbstverständlich existieren keine strukturellen Parallelen zwischen der im Roman thematisierten «Euthanasie»-Aktion und der heute geführten Debatte um eine Legalisierung bestimmter Formen der Sterbehilfe, die einen Rückbezug auf die Geschehnisse der NS-Vergangenheit aus rationaler Sicht rechtfertigen würden. So wurde der Massenmord als «[s]treng geheime Reichssache» (S. 151) unter höchster Geheimhaltung durchgeführt, während in den heutigen demokratischen Debatten die Transparenz unangefochten im Mittelpunkt steht. Es ist jedoch eine Frage der Erinnerungskultur, der Furcht vor einer Wiederholung ähnlicher Tendenzen, die viele bei jedem Thema aufhorchen lässt. Aus diesem Grund ist eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen – gerade im Kontext der Themen um die Tötung auf Verlangen und den assistierten Suizid – durchaus notwendig, um einerseits überzeugende Argumente entwickeln zu können und andererseits bestehende Berührungsängste zu konfrontieren. Barbara Zoekes Roman begründet in diesem Zuge anschaulich die Furcht, «dass der Arzt der gefährlichste Mensch im Staate sein könne.» (S. 130) Die Bedrohung liegt in der Kompetenz des Arztes, im Ernstfall zwischen dem Leben und dem Tod hilfloser Personen entscheiden zu können, wobei es als Außenstehender schwierig ist, die Legitimation der medizinischen Handlungen in Zweifel zu ziehen.

Von der Aktualität der Vergangenheit

In seinem autobiographischen Roman Schreiben oder Leben aus dem Jahre 1994 schreibt der spanisch-französische Schriftsteller und Überlebende des Konzentrationslagers Buchenwald, Jorge Semprún:

Gut erzählen heißt: daß man gehört wird. Das gelingt nicht ohne ein paar Kunstgriffe. Genügend, daß es Kunst wird.

Jorge Semprún

Dies ist Barbara Zoeke gelungen. In einer literarisch anspruchsvollen und gleichzeitig sehr anschaulichen und brandaktuellen Erzählung, die zugleich Fiktionalisierung historischer Ereignisse ist, gibt sie Anstoß zur Reflexion über verschiedene Arten des fremd- sowie des selbstbestimmten Sterbens. Sie thematisiert fiktive Einzelfälle, die unterschiedliche Rahmenbedingungen und Kontexte skizzieren. Dabei hat sie mit den nationalsozialistischen Verbrechen einen Handlungsrahmen gewählt, welcher die Debatten um die Legalisierung bestimmter Formen der Sterbehilfe in Deutschland noch heute bedingt. Indem Zoekes Schilderungen Menschheitsverbrechen und verzweifelte Liebestaten, Überzeugungstäter und hilflose Opfer nebeneinander stellen, gelingt es der Autorin, eine zeitlose Diskussionsgrundlage zu schaffen. Zahlreiche im Erzähltext versteckten Kommentare, die im zeitgenössischen Kontext wie heute gleichermaßen ihre Gültigkeit behalten, unterstützen überdies den Beitrag, den Zoeke im medizinethischen Diskurs um Sterbenlassen, assistiertem Suizid und Tötung auf Verlangen leistet.

Die Stunde der Spezialisten ist ein beeindruckender Text, dem es auf geschickte Art und Weise gelingt, sowohl den Opfern als auch den Tätern der «Euthanasie»-Aktion unter dem NS-Regime eine Stimme zu verleihen. Mithilfe verschiedener Blickwinkel weckt der authentische Erzählstil in den Lesenden ganz automatisch eine starke Empathie gegenüber den handelnden Figuren und ihren Schicksalen. Das Buch ist zwar schwer verdauliche Kost, doch das verleiht der Lektüre umso mehr Wert. Dazu erscheint der Roman am Rande einer höchst aktuellen medizinethischen Debatte um den assistierten Suizid in Deutschland…

Kurz & Bündig

PositivNegativ
SchreibstilAnspruchsvoll, nüchtern ★
SpannungVorhersehbar ☆
CharaktereAuthentisch ★
SettingRealistisch ★
HandlungErnst, bedrückend, intensiv ★

Bewertung: ★ ★ ★ ★ ☆

PS: Die Stunde der Spezialisten hat es übrigens auch auf diese Liste geschafft. Dort stelle ich zehn Bücher vor, deren Protagonist*in eine ältere Person oder eine*n Senior*in ist.


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