Eine vom Regen nach unten gedrückte, rot leuchtende Mohnblüte

Was ist eigentlich «Ethik»?

Die Frage nach der Bedeutung der Begriffe «Ethik» und «ethisch» stellen sich nicht nur unzählige Schüler:innen und Student:innen, wenn sie dieses schwer zu greifende Thema im Unterricht besprechen. Auch in der Philosophiegeschichte wurde sie immer wieder aufgeworfen und aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln heraus beantwortet.

Insgesamt ist die Ethik ein unfassbar spannendes und komplexes Thema, das ich hier nur ganz rudimentär anreißen kann. Eines macht sie für mich allerdings ganz besonders interessant: Ethik und Literatur lassen sich niemals voneinander trennen!

Was ich damit meine? Lies weiter!

Aristoteles, das Urgestein

Der griechische Philosoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) ist einer der wichtigsten Ethiker überhaupt. Seine Lehren werden bis heute immer wieder zu den unterschiedlichsten Themen herangezogen. Für uns sind an dieser Stelle vor allem die Definitionen und Herleitungen der einzelnen Begriffe interessant.

Allen Ansätzen zugrunde liegt die Unterscheidung zwischen Moral und Ethik. Das Wort Moral stammt vom lateinischen Begriff «mos/mores», zu Deutsch «Sitte» bzw. «Brauch». Ausgehend von diesem Ursprung meint die Moral das allgemeine, normative Sittensystem, also Vorschriften, wie man sich in einer Gesellschaft zu verhalten hat. Die Ethik denkt dagegen aus einer dynamischen und diskursiven Perspektive heraus über die Moral nach. Deshalb wird sie häufig auch als «Moralphilosophie» bezeichnet.

Nahaufnahme der Reclam-Ausgabe von Aristoteles' Nikomachischer Ethik
Zerlesen und zerfleddert – meine Ausgabe der Nikomachischen Ethik

In seiner Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft. Die theoretische Vernunft befasst sich mit der Beschreibung davon, wie Dinge funktionieren, z.B. eine Beobachtung der Naturgesetze. Die praktische Vernunft kann dagegen nur durch einen Gewöhnungsprozess erlernt werden und bezieht sich damit auf die innere Einstellung jedes einzelnen.

In diesem Kontext unterscheidet Aristoteles außerdem zwischen der «poiesis» und der «praxis». Die «poiesis» ist zweckrational, arbeitet also auf ein Ergebnis hin, und umfasst z.B. das Herstellungswissen (griech. «technê»), d.h. im Prinzip Anleitungen. Die «praxis» ist dagegen selbstzwecklich nach dem Motto «Der Weg ist das Ziel» und bezieht sich auf die Charaktertugenden. Und damit sind wir beim Thema: Denn Aristoteles bezeichnet genau diese Charaktertugenden als «êthikê», was wiederum vom griechischen Wort «éthos» abstammt, das «Gewöhnung» bedeutet.

Um all diese Zusammenhänge zu verstehen, müssen wir jedoch noch ein bisschen weiter ausholen. Das ultimative Ziel jedes einzelnen ist laut Aristoteles die «eudaimonía», die man etwa mit «Seelenglück» übersetzen kann, also eine Art innerer Zufriedenheit mit sich selbst. Und dieses persönliche Ziel soll mithilfe der Charaktertugenden («êthikê») erreicht werden. Zu diesem zweck soll eine Person sowohl bei spontanen Affekten und Reaktionen als auch in bewussten Aktionen aus freien Stücken heraus auf eine bestimmte Art handeln: zum Mittleren («mesotês») hin. Das bedeutet, man soll nicht in Extreme wie Wut oder Angst hineinrutschen, sondern stets die Ruhe bewahren und – abhängig von der jeweiligen Situation – moderate Handlungen und Wege wählen.

Damit man allerdings immer wieder die in diesem sittlich-moralischen Sinne „richtige“ Entscheidung treffen kann, muss man den eigenen Willen in einem langwierigen Prozess schulen, ihn sozusagen an diese besondere, moderate Art der Lebensführung gewöhnen. «Êthikê» meint also laut Aristoteles die innere Einstellung und Fähigkeit einer Person, nicht bloß Sittenvorschriften zu folgen, sondern sich aus eigenem Willen heraus in jeder Situation für die moralisch richtige Lösung zu entscheiden.

Kant bringt die Sache auf den Punkt

Die ethische Frage nach dem «guten», «richtigen» Handeln hat sich auch der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) gestellt. Auch er sieht das Ziel der Ethik in einem guten und erfüllten Leben.

Im Gegensatz zu der subjektiven und auf den individuellen Einzelfall ausgerichteten Herangehensweise von Aristoteles hat sich Kant allerdings vorgenommen, einen objektiven und allgemeingültigen Moralkodex zu entwerfen: der kategorische Imperativ.

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.

Immanuel Kant, Universalisierungsformel des kategorischen Imperativs

Damit befindet sich der Fokus in der kantischen Ethik nicht, wie bei Aristoteles, auf der individuellen Tugendhaftigkeit. Stattdessen stehen die vernunftgeleitete Gleichheit aller Menschen und die Menschenwürde im Vordergrund. Dabei legt allerdings auch Kant großen Wert auf die Intention der Handelnden und fordert eine intrinsische Motivation, also den Willen, etwas zu tun. Im Gegensatz zu extrinsischen Beweggründen, z.B. Druck von außen, müssen die inneren Beweggründe in einem langwierigen Prozess erlernt werden – der Geist muss sich also an diese bestimmte Denkweise gewöhnen. Ähnlich versteht Aristoteles den «éthos» in der Antike als die Gewohnheit, sich auf eine bestimmte, «richtige» Art zu verhalten.

Damit ist Kants Kernthese in Bezug auf die Frage «Was ist Ethik?» auch schon zusammengefasst. Zwar absolut minimalistisch, aber immerhin. Die ganze, komplexe Moralphilosophie lässt sich freilich nicht in wenigen Sätzen beschreiben, und das möchte ich auch gar nicht erst versuchen. Mir geht es an dieser Stelle allein darum, dass sowohl Aristoteles als auch Kant eine perfekte Grundlage bieten, um zu begreifen, was sich hinter dem diffusen und riesigen Begriff der Ethik versteckt.

Was hat die Ethik nun mit der Literatur zu tun?

An den Beispielen von Aristoteles und Kant wird klar: Ethik meint eine Art der eigenen Persönlichkeitsbildung, die darauf hinarbeitet, das «Richtige» zu tun. Was dieses «Richtige» ist, darüber streiten sich Philosophen seit Jahrtausenden. Klar ist nur, dass es etwas damit zu tun hat, mit sich selbst im Reinen zu sein und sowohl sich selbst als auch andere «gut», also wertschätzend zu behandeln. Würde sich jede:r «ethisch» verhalten, gäbe es keine Konflikte, den jede:r würde stets rational und moderat handeln. Es wäre in den Augen der Philosoph:innen die perfekte Gesellschaft.

Plüschtier der Augsburger Campuscat
Wer den kleinen Drops hier erkennt, errät auch, wo ich studiert habe 🙂

Das alles ist natürlich aber viel leichter gesagt als getan – auch darüber sind sich die Philosoph:innen einig. Daher handelt es sich dabei um einen Gewöhnungs- und Lernprozess, der darauf abzielt, nur das «Gute» und «Richtige» zu wollen. Und das ist wiederum überhaupt erst ansatzweise erreichbar, wenn man sich mit sich selbst und seinen eigenen Gefühlen, Wünschen, Ängsten und Abgründen beschäftigt.

Und hier kommt die Literatur ins Spiel. Damit meine ich übrigens alle Arten von Fiktion: von klassischen Büchern über Hörbücher, Filme und Serien bis hin Spielen – einfach alles, was eine Geschichte erzählt. Denn gibt es eine bessere Gelegenheit, um über sich selbst und die eigenen Handlungen nachzudenken, als während bzw. nach einer Geschichte? Wenn wir uns mit der:dem Protagonist:in identifizieren, oder auch mit der:dem Antagonist:in, wenn wir mit den einen Charakteren mitfiebern und andere dafür umso mehr hassen?

Literatur, Filme, Spiele, Geschichten setzen uns einen Spiegel vor. Sie zwingen uns dazu, uns mit uns selbst zu beschäftigen, ganz egal ob wir wollen oder nicht. Das muss auch kein bewusstes Grübeln sein. Wenn uns eine Geschichte so richtig mitreißt, wenn wir uns beim Gedanken and die Charaktere ertappen, herzhaft vor dem Bildschirm lachen oder sogar die ein oder andere Träne auf den Buchseiten verwischen, wenn uns der Gedanke an eine bestimmte Szene glücklich macht und die Erinnerung an eine andere durch schwere Zeiten hilft: In all diesen Momenten beschäftigen wir uns bewusst oder unbewusst(!) damit – und zugleich mit uns selbst.

Eine Geschichte muss weder positive Dinge erzählen, noch überhaupt gefallen, um diesen Effekt zu erzielen. Auch, wenn wir sie abstoßend finden oder gar nicht verstehen, vielleicht der Handlung nicht so recht folgen oder die Entscheidungen der Protagonist:innen nicht nachvollziehen können, regt sie (in den allermeisten Fällen) trotzdem zum Nachdenken an. Hier zählen in erster Linie die Emotionen – sowohl positiv als auch negativ.

Egal, was man also für sich persönlich als das «Gute» oder «Richtige» definiert: Literatur regt uns dazu an, uns mit unterschiedlichen Situationen und Persönlichkeiten auseinanderzusetzen, uns in andere hineinzuversetzen, uns in fremden Welten zu verlieren und uns dabei ganz automatisch auch mit uns selbst zu beschäftigen. Genau aus diesem Grund ist Literatur nicht nur ein wichtiges Werkzeug der Ethik:

Literatur selbst ist immer auch ethisch.

Ich hoffe, euch hat mein kleiner Exkurs in die Welt der Philosophie gefallen! Habt ihr noch Fragen dazu? Oder Wünsche, Anmerkungen, Ideen? Dann hinterlasst gerne einen Kommentar!


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