Gesicht eines Androiden. Ausschnitt der Augen-Nase-Partie. Ein Auge ist menschliche, das andere künstlich. Stacheldraht durchstößt die Nase.

Ich 2.0

Klappentext & Content Notice

Kurzgeschichte, Science-Fiction

Ein ganz normaler Familienvater. Ein Angebot zur Teilnahme an einem medizinischen Experiment, hervorragend vergütet. Doch als seine Welt völlig aus den Fugen gerät, bleibt ihm nur mehr eine einzige Frage: Wer bin ich?

[CN: Tod, Mord, Depression]

„Was für eine Schweinerei… was haben Sie gefunden?“

„Eine Art Abschiedsbrief.“

„Geben Sie schon her!“

The eye, like a shattered mirror, multiplies the image of sorrow.

Edgar Allen Poe

Ja, bereits Edgar Allen Poe hatte diese perverse Faszination, ein Gespräch mit einem Totgeweihten zu führen. Dazu habe ich nicht getaugt… es wurde mehr so ein Selbstgespräch. Nein, eine Botschaft… an die Menschheit:

Wir sind zu weit gegangen!

Kaum zwei Wochen ist es her, mein Leben war einfach. Bestimmt vom Alltag, von der immergleichen Routine: Meine Frau, die Tochter und der Sohn, beide gerade im Schulalter, mein Job, fünf Tage die Woche im Büro, 8 bis 17 Uhr. Doch dann fiel mir dieser Flyer in die Hände. Und, was soll ich sagen? Ich bin käuflich, ein Bänker durch und durch, und die gebotene Summe war gigantisch. Natürlich meldete ich mich dort und wurde prompt in dieses Programm aufgenommen. Worum es ging? Das wusste ich derzeit noch nicht, Top Secret haben sie es genannt.

Die Formalitäten gingen sehr schnell, ein Vertrag vor die Nase, eine Unterschrift und schon bugsierten sie mich in ein Gerät, das mich an einen Kernspintomografen erinnerte. Sie sagten mir, mein ganzer Körper müsse gescannt werden. Im Anschluss daran setzten sie mich vor eine blassgelbe Wand und ließen mich warten. Lange. In der Zwischenzeit hörte ich mich selbst reden, meine eigene Stimme in einem angrenzenden Zimmer, wie sie auf diverse Fragen antwortete. Es war ein komisches Gefühl und – bei Gott! Es verwirrte mich völlig. Hatten sie meine Stimme mit diesem Gerät kopiert? Ich erinnerte mich, beim flüchtigen Durchblättern etwas in dieser Art in dem Vertrag gelesen zu haben… wie ich bereits meine eigene Ignoranz bereute! Doch die Tür war verschlossen und mein Klopfen und meine Rufe sollten erst nach einer gefühlten Ewigkeit beantwortet werden…

Drei Tage lang verbrachte ich daraufhin in einer Art Krankenbett und wartete auf meine Entlassung. Wie sich herausstellte, hatte ich seit der Untersuchung merkwürdige motorische Schwierigkeiten, war ungelenk, und auch meine Stimme hörte sich komisch an, häufig kamen die Worte anders aus meinem Mund, als ich wollte. Ein Mann in einem weißen Mantel, offensichtlich irgendein Arzt, kam immer wieder zu mir ans Bett und stellte mir seltsame Fragen, zu meinem Leben, meiner Familie, meinen Gewohnheiten. Schließlich erklärte er mir beinahe überschwänglich, er könne es kaum fassen, es habe nach all den Versuchen endlich funktioniert!

Ich fragte nicht nach, was es denn nun eigtentlich sei. Inzwischen war mir so ziemlich alles egal, ich wollte nur noch nach Hause. Den Arzt hatte ich eindringlich gebeten, meine Frau zu informieren, denn mir selbst wollten sie kein Telefon geben, mein Handy hatte ich vor der Untersuchung abgelegt und bislang nicht wieder bekommen. Ich erwartete, dass sie mich besuchen kommen würde, doch ich sah und hörte nichts von ihr. Top Secret. Ich durfte also tatsächlich gehen und verlangte natürlich mein Geld – wenn mir etwas nach alldem zustand, dann ja wohl das! Die Reaktion dieser Idioten auf meine Forderung war jedenfalls lautes Gelächter. Ich bestand auf den Vertrag und erklärte, dass ich jederzeit bereit wäre, mein Recht auch gerichtlich einzufordern, doch ehe ich mich versah, stand ich einfach auf der Straße. An einer belebten Kreuzung, jedenfalls nicht da, wo ich vor drei Tagen geklingelt hatte. Wie genau ich dorthin kam, bleibt mir bis heute ein Rätsel, das Gelächter der Leute aus dem Versuchslabor noch immer in den Ohren. Der Versuch meine Frau anzurufen scheiterte bereits daran, dass sie mir mein Handy auch nicht wiedergegeben hatten, als sie mich vor die Tür setzten. Nach kurzer Überlegung und einem Blick auf die Uhr an der nächsten Bushaltestelle entschied ich mich, im Büro vorbeizuschauen. Das war kein weiter Fußweg und – wie sollte es auch anders sein – vermisste ich ebenfalls meine Geldbörse. Sonst war eigentlich noch alles gut, bis ich aus dem Aufzug stieg und plötzlich mir selbst gegenüber stand.

Es war kein Spiegel, sondern ein echter Körper, ein lebensgroßes Abbild, das mir glich wie ein Ei dem anderen. Diese Bastarde haben doch tatsächlich meinen Körper und mein Gehirn kopiert und in so eine Blechbüchse eingebaut. Sowas nennt sich dann wohl Android. Jedenfalls, man kann es sich denken, war es weder mir noch ihm möglich die, nennen wir es irritierten, Blicke der Kollegen zu ignorieren. Es folgte ein Gespräch mit mir selbst und ich fragte mich, ob ich selbst wirklich so dumme Antworten gebe, ständig mit meiner Hand über den Nacken fahre, mit den Füßen zapple und praktisch permanent an meinem Gesprächspartner vorbei starre. Binnen weniger Sekunden musste ich feststellen: scheiße, ja. Jedenfalls hatte mich dieses verdammte Stück Plastik die letzten drei Tage ersetzt, niemand hatte etwas gemerkt – noch nicht einmal meine Frau! Im Gegenteil, die empfand es wohl sogar als nötig, es mit dem Ding zu treiben. Meine Kinder hatten damit gespielt und sich abends etwas vorlesen lassen. Ihr werdet es mir nicht glauben, aber ich musste mir doch eingestehen, dass die Kopie wahrlich gelungen war. Ständig redeten wir zur selben Zeit, wählten sogar dieselben Worte. Meine erste Reaktion, voller Empörung vom Büro nach Hause zu laufen, teilte dieses Ding und es kennt sogar meine Kontonummer samt Geheimzahl – und hat doch tatsächlich meine vermisste Geldbörse inklusive aller Dokumente und Karten! Diese verdammten, unfähigen Idioten!

Als ich schließlich doppelt vor meiner Frau stand, offenbarte sich – endlich! – ein Unterschied in unserem Verhalten: Während das Ding unsicher vor sich hin stammelte und offensichtlich nicht mit dieser neuen Situation umzugehen wusste, regte sich in mir ein Zorn von völlig ungekannter Intensität. „Hure“, schimpfte ich sie und gab ihr die Schuld an allem. So ist es nicht verwunderlich, dass das verdammte Ding und ich uns letztendlich in einem Hotel wiederfanden. In demselben Hotel, wenigstens in unterschiedlichen Zimmern, hatte ich doch rechtzeitig geschaltet und der Rezeption einen falschen Namen genannt. Eine Woche lang versuchten wir, uns eine Art Alltag aufzubauen. Ich wollte auf jeden Fall verhindern, dass das beschissene Ding mir mein Leben klaut, doch es ließ nicht locker, verhielt sich wie ich. Also arrangierten wir uns mit dem Job, berieten abwechselnd die Kunden und versuchten, uns möglichst nie gemeinsam mit anderen Leuten im selben Raum aufzuhalten. An dieser Stelle muss ich eingestehen, der konnte das wirklich gut. Sie scheinen ihm meine ganze berufliche Erfahrung eingepflanzt zu haben, denn kein einziges Mal hätte ich anders reagiert. Wenn auch unfreiwillig, konnte ich nun beobachten, wie ich auf andere wirke, wie es ist mit mir zu diskutieren, welche Ticks ich habe – und wie unfassbar austauschbar ich bin.

„Herr Kommissar?“

„Ja?“

„Das Labor hat angerufen, die wollen Sie sprechen.“

„Sagen Sie ihnen, ich rufe gleich zurück.
Ich muss das hier erst noch zu Ende lesen.“

Depressionen sind hinterhältig. Plötzlich sind sie da und reißen einen in ein Loch, tief und schwarz und ohne Entkommen. Ich kann so nicht weiterleben. Alles, was ich war, ist vor meinen Augen verblasst, nichts ist mir geblieben außer der Einsicht, wie widerlich ich mich verhalten habe und es noch immer tue. Das Ding muss weg. Da ich diesen Gedanken habe, muss es ihn wohl auch haben. Natürlich hat es ihn. Es reicht nicht, an einen anderen Ort zu gehen, es würde mir folgen und mich einholen, das ist mir nun bewusst. Ohne Entkommen. Naja, eine Möglichkeit. Ich muss es beenden, bevor es es tut. Aber wie kann ich mich selbst hintergehen?

Es ist gar nicht so schwer: Eine kurze Nachricht, die mich allen Zorn vergessen lässt. Eine Nachricht von einer Person, die ich glaubte zu lieben. Ich besorge mir eine Waffe von der Abfindung für die Teilnahme an dem Experiment. Das Geld ist wirklich auf meinem Konto und es reicht für eine schöne kleine 44er auf dem Schwarzmarkt. Mit der bedrohlichen Waffe am Kopf bleibt meiner ach so weinenden und flehenden Frau nichts anderes übrig, als das Ding anzurufen und unter einem Vorwand zu bitten, nach Hause zu kommen. Die Wartezeit verging im Fluge bis die Klingel ertönt. Sie öffnet schluchzend die Tür und fällt ihm doch tatsächlich in den Arm. Ich drücke ab, immer und immer wieder, bis die Waffe nur noch ein metallisches Klicken von sich gibt. Da liegen sie beide auf den hellen Fließen, in einer sich rasch ausbreitenden Blutlache: Das Ding, das ich sein wollte, und diese verräterische Schlange, die sich für dieses Etwas entschieden hat.

Das war es. Meine Familie. Zerstört. Mein Leben. Vorbei.

Und ich ?

„Herr Kommissar?“

„Was ist denn, verdammt?!“

„Das Auge! Solange es leuchtet, zeichnet es alles auf.“


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