Ein ausladender, dunkelgrüner Nadelbaum vor dem wolkigen Himmel.

Der Talisman

Klappentext & Content Notice

Kurzgeschichte, Fantasy

Ronja ist am Boden zerstört, als ihr Mann Johann in den Krieg ziehen muss. Ein geheimnisvoller Talisman ist ihre letzte Hoffnung. Doch die schwarze Magie birgt viele Gefahren…

[CN: Krieg, Tod]

Der Ring

Ronja spürte, wie die erste Träne ihre Wange hinablief. Energisch wischte sie sich mit dem Ärmel über ihr Gesicht. Der Abschied war schon schwer genug, heulen konnte sie auch danach. Notdürftig richtete sie ihre etwas aufgelöste Frisur, bevor sie sich zu den anderen nach draußen gesellte.

Mitten im Hof stand der Hengst Ludwig, bereits gesattelt und aufgetrenst. Johann war gerade dabei, sein restliches Gepäck in den Satteltaschen zu verstauen und mit geübten Griffen zu verschnallen. Seine Bewegungen strahlten Ruhe und Gelassenheit aus. Da Johann ihr den Rücken zudrehte, verharrte Ronja in einiger Entfernung und saugte diesen letzten Anblick ihres Mannes geradezu in sich auf. Offenbar hatte er Ronjas Anwesenheit jedoch längst bemerkt, denn als alle Riemen festgezurrt waren, drehte er sich zu ihr um und bereitete die Arme aus. Wie in Trance lief sie auf ihn zu und legte den Kopf an seine Brust.

„Versprich mir, dass du zurückkommst.“ Mit ihrer Stimme spürte Ronja ein Schluchzen in ihrer Kehle aufsteigen, das sie mit aller Kraft zurückdrängte.

„Du weißt, ich würde dich niemals allein lassen.“ Johanns Hand strich sanft über ihre Haare.
Ronja hob den Kopf an, um ihm ins Gesicht zu blicken. „Bitte nimm das. Trage ihn als deinen Talisman. Tust du das für mich?“

Mit diesen Worten drückte sie ihm einen dezent verzierten, goldenen Ring in die Handfläche. Ein zweiter Blick verriet Johann, dass es sich um ein Erbstück handelte. Es war das einzige, das seine Frau noch von ihrer viel zu früh verstorbenen Mutter besaß.

„Ronja, nein. Das kann ich nicht annehmen. Ich weiß, wie viel dir dieser Ring bedeutet. Außerdem weißt du doch, dass ich nicht an solche Dinge glaube.“

„Bitte. Wenn ich den Ring bei dir weiß, fühlt sich die Entfernung nicht ganz so groß an. Tu es deiner hysterischen Frau zuliebe.“

In Johanns Augenwinkeln zeichnete sich ein trauriges Lächeln ab. Ronja war alles andere als hysterisch. Mit diesem scherzhaften Ausdruck versuchte sie nur, ihre eigene Angst zu überspielen, das war offensichtlich. Seine Finger schlossen sich um das warme Metall. „Wenn es dir so wichtig ist, werde ich den Ring bei mir tragen.“

In der Ferne erklang ein scharfer Pfiff. Johann schloss Ronja noch einmal in die Arme und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Dann drehte er sich um und ergriff die Zügel des Pferdes.

„Der Krieg wartet nicht. Mach dir keine Sorgen, wir werden uns bald wieder sehen!“ Mit diesen Worten schwang er sich in den Sattel. In seiner Rechten hielt er noch immer den Ring seiner Frau. Er schloss seine Finger zur Faust und führte sie zu seinen Lippen, dann winkte er damit seinen Abschied.

Als sie Johan zum Tor hinausreiten sah, konnte Ronja ihr Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Es war, als würde ein Teil ihres Selbst auf dem Pferderücken sitzen.

Das Ritual

Vier Monate waren vergangen, seit ihr Gatte in den Krieg gezogen war. Ronja hatte ihren Geist mit allerlei Dingen beschäftigt, um bloß nicht in ihren Sorgen um Johann zu versinken. Umso schwerer sie tagsüber arbeitete, desto mehr Erholung verlangte ihr Körper zur Ruhezeit. Dennoch überwogen die schlaflosen Nächte, in denen sie aus schrecklichen Alpträumen hochschreckte, schweißgebadet, nur um festzustellen, dass der Schlafplatz neben ihr tatsächlich verwaist war.

Eines Nachts hielt es Ronja nicht länger aus. Der Mond stand hell am schwarzen Himmel und warf sein fahles Licht durch das Fenster aufs Bett. Die Sorgen hatten sich tief in ihr Inneres gefressen und erlaubten ihr keinen Moment der Ruhe. Unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um Johann, malten die schrecklichsten Bilder und erwarteten zugleich, dass er jeden Moment auf den Hof geritten käme.

Vom Schmerz getrieben griff Ronja nach einer kleinen, seltsam verzierten Truhe aus Ebenholz, die sie unter ihren Kleidern verborgen hatte. Ihre zitternden Finger brauchten mehrere Versuche, um den feinen Verschluss zu öffnen, doch schließlich klappte der Deckel zurück und offenbarte fünf schneeweiße Kerzen, die im Mondlicht glänzten. Vorsichtig nahm Ronja sie aus der Truhe, stellte sie in einem Kreis auf den Boden und zündete sie an. Dann griff sie nach dem silbernen Dolch, der unter den Kerzen zum Vorschein gekommen war, und legte ihn in ihre Handfläche. Sie biss die Zähne zusammen, als die scharfe Klinge ihre Haut durchschnitt. Im nächsten Moment sammelte sich das im Kerzenschein dunkelrot schimmernde Blut in den Furchen ihrer Haut und drohte, auf ihren Rock zu tropfen. Schnell presste Ronja ihre Handflächen zusammen und begann, die Kerzen mit Linien auf dem Boden miteinander zu verbinden. Zuletzt malte sie mit ihrem eigenen Blut ein Zeichen aus mehreren geschwungenen Bögen in die Mitte, bevor sie sich notdürftig einen Stofffetzen um die verletzte Hand wickelte. Sie schloss die Augen und flüsterte mit zitternder Stimme die Formel, deren Worte in ihrem Gedächtnis eingebrannt waren, obgleich sie sie noch nie laut ausgesprochen hatte.

Vor Ronjas Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen und die Wände schienen sich seltsamerweise auf sie zuzubewegen. Der Raum fing an, sich um sie herum zu drehen, immer schneller, und Ronja schmeckte bittere Magensäure auf ihrer Zunge, die Übelkeit nahm Überhand. Sie spürte noch, wie ihr gefühlloser Körper in sich zusammensackte, bevor ihr Geist in eine tiefe Finsternis hineingezogen wurde.

Im nächsten Moment blickte Ronja in das sorgenvolle Gesicht ihres Mannes. Johann kniete auf dem Boden, seine Kleidung war zerrissen und schmutzig, an einigen Stellen war zweifellos Blut eingetrocknet – hoffentlich nicht sein eigenes. Ronja hob die Hand, um sein Gesicht zu berühren, ihn zu trösten, doch sie unterbrach die Bewegung. Jeder Versuch wäre sinnlos, es war keine Berührung möglich, ebenso wenig, wie Johann sie wahrnehmen konnte, darüber war sie sich im Klaren.

Erst jetzt bemerkte Ronja, dass Johann mit leerem Blick seine Handflächen anstarrte, in denen der Ring lag, den sie ihm mitgegeben hatte. Für ihn bloß ein Talisman, für sie der Anker ihres Geistes, ohne den der Dissociationszauber nicht möglich gewesen wäre. Denn für den Dissociatio Animi benötigte die Seele stets einen Gegenstand, an den sie gebunden wurde, um zu verhindern, dass sie sich in den unendlichen Gefilden des Daseins verirrte. Ronja wusste, sie würde den Zauber nicht allzu lange aufrecht erhalten können, denn um in ihren Körper zurückzukehren, musste dieser genug Kraft aufbringen. Doch sie hatte erreicht, wofür sie gekommen war: Die Gewissheit um Johanns Leben und um seine weitgehende Unversehrtheit. Wie ein Häufchen Elend kniete ihr Mann dort auf dem Boden, die Verzweiflung sprach aus seinem ganzen Körper. Was wünschte sie sich, seine Berührung zu spüren und mit ihm zu sprechen! Doch das war schlichtweg unmöglich.

Schweren Herzens riss sich Ronja los und konzentrierte sich auf ihren eigenen Körper. Es ging leichter als erwartet und im nächsten Augenblick hob Ronja ihr blutverschmiertes Gesicht vom rauen Holzboden ihrer Schlafkammer.

Ronja war unglaublich erleichtert, dass der Zauber auf Anhieb gelungen war. Der Anblick ihres Mannes – lebendig und intakt – beflügelte ihr die darauffolgenden Tage. Von einem Teil ihrer Sorgen befreit fand sie sogar wieder etwas Erholung im nächtlichen Schlaf.

Doch die Freude wich viel zu schnell den erneuten Sorgen. Was, wenn in der Zwischenzeit etwas passiert war? Johanns Augen hatten so traurig ausgesehen… was, wenn er eine Vorahnung hatte?

So verging nicht viel Zeit, bis Ronja erneut die dunkle Truhe aus ihrem Versteck holte. Der inzwischen abnehmende Mond und eine beständige Wolkendecke machten die Nacht ungewöhnlich finster, doch die nötigen Handgriffe waren ihr inzwischen vertraut. Den Schmerz der silberfarbenen Klinge spürte sie kaum und die Beschwörungsformel ging ihr viel leichter von den Lippen als beim ersten Mal. Im Nu begrüßte sie den Strudel der Finsternis, der sie in eine andere Daseinswelt zog.

Diesmal fand sich Ronja auf einem nächtlichen Schlachtfeld wieder. Um sie herum war alles still bis auf eine kleine Gruppe von Männern, die sich inmitten der Leichenberge befanden. Ihre Augen glänzten müde im Fackelschein. Einige standen in einem zerstreuten Halbkreis um ein paar wenige herum, die auf dem Boden knieten. Der Schreck ließ Ronja erstarren, als sie erkannte, dass Johann darunter war. Die schmutzigen Gesichter der am Boden kauernden Männer waren zu schrecklichen Fratzen verzerrt, in denen sich die pure Verzweiflung spiegelte. Der Kommandant der größeren Gruppe rief etwas, doch die Worte klangen seltsam fremd in Ronjas Ohren. Als niemand reagierte, trat er Johann grob in den Rücken, sodass dieser mit dem Gesicht im Dreck landete, dann sprach er weiter.

Ronja war in ihrer Machtlosigkeit der stillen Zuschauerin erstarrt, unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Sie konnte nicht glauben, wovon sie in diesem Augenblick Zeugin wurde.

Die Ansprache des Kommandanten wurde von zustimmendem Gemurmel der Umherstehenden begleitet. Schließlich zog er sein Schwert und stellte sich hinter den ersten der auf der Erde knienden Männer. Die Klinge blitzte im Fackelschein auf, nur für einen Augenblick, und fuhr dann herunter.

Ronjas Panik brach heraus. Schreiend warf sie sich dazwischen, doch in ihrer geisterhaften Form konnte sie keinen Kontakt zu den weltlichen Geschöpfen aufnehmen.

Der Henker folgte der Reihe und im nächsten Augenblick fiel auch der Körper des zweiten Gefangenen leblos zu Boden. Ronja raste und warf sich auf den feindlichen Kommandanten, doch niemand der Männer bemerkte überhaupt ihre Anwesenheit. NEIN! NEIN! NEIN! JOHANN! NEIN! Sie wollte schreien, brüllen, doch noch immer verließ kein Laut Ronjas Lippen.

Der Anblick ihres Mannes, der hilflos zusammenbrach, nahm ihr wortwörtlich den Boden unter den Füßen. Sie fiel auf ihn und wollte sein Gesicht auffangen, ihn trösten, ihn ein letztes Mal küssen, doch ihre Hände griffen einfach durch den Körper hindurch. Nicht einmal weinen konnte sie, nur eine tiefe, dunkle, bodenlose Trauer grub sich in ihr Innerstes.

Der Schrei brach schließlich hervor und zerriss ihren Geist.

Ronja bemerkte nicht, wie sich die feindlichen Soldaten zurückzogen und die Leichen auf dem blutgetränkten Feld zurückließen. Sie bemerkte auch nicht, wie die Sonne langsam aufging und die schreckliche Szenerie in ein warmes Morgenlicht hüllte.

Der Geist

Etwa zur selben Zeit fand die Magd Ronjas geistlosen Körper auf dem Boden ihrer Kammer. Sie war nicht tot, ihre Augen waren sogar geöffnet, doch die einst so lebhafte junge Frau war nur noch eine leere Hülle. Keiner konnte wissen, dass ihr Geist noch immer ziellos auf den Schlachtfeldern umherirrte, gefangen von der Tat eines ihr unbekannten Mannes, deren ungebetene Zeugin sie geworden war.


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