Der Titel "Alles wie es scheint" auf einer Bildcollage in rottönen. Man sieht eine verschneide Straße mit mehreren Silhouetten von Passanten. Im HIntergrund sind mehrere hell erleuchtete große Gebäute zu sehen. Darüber ein im Verhältnis gigantisches Augenpaar, das die Betrachtenden direkt anszusehen scheint. Links und rechts davon blicken weibliche Gesichter in ähnlicher Größenordnung gedankenverloren nach oben.

Alles wie es scheint | Kapitel I

I-5 Alles wie es scheint?

Alex lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und streckte die Beine unter dem Tisch aus.

«Puh. Diese riesigen, verschreckten Kinderaugen verfolgen mich immernoch. Wie von einem Rehkitz», seufzte sie, als Maya mit zwei Tassen in der Hand in der Bürotür erschien.

Das war zwar ein kurzer Fall gewesen, aber er hatte es wirklich in sich gehabt.

«Mich auch», antwortete diese und stellte schwungvoll eine der Tassen auf den Tisch ihrer Kollegin, sodass einige dunkle Spritzer auf der gläsernen Platte landeten. «Du brauchst erst Mal einen Kaffee. Hier, extra stark», fügte sie augenzwinkernd hinzu.

«Danke! Du bist ein Schatz.» Mit beiden Händen umklammerte Alex das heiße Gefäß, als müsste sie sich irgendwo festhalten.

Nachdem sie die Wahrheit über die Tragödie erfahren hatten, die sich offenbar schon seit vielen Jahren in der Familie Grünthal abspielte, war alles ganz schnell gegangen. Eine Streife hatte Julia Grünthal festgenommen und aufs Revier gebracht, wo nur kurze Zeit später auch die beiden Kommissarinnen mit Vater und Tochter aufgeschlagen waren. Innerhalb nur weniger Stunden war das vom zivil- und strafrechtlichen Algorithmus gefällte Urteil von den notwendigen fünf zufällig ausgewählten Richtern bestätigt und vollzogen. Julia Grünthal, die ihre Tochter offenbar schon seit über fünf Jahren misshandelte, bekam eine saftige Freiheitsstrafe, ihr wurde außerdem das Sorgerecht entzogen.

Indes ließ sich Maya auf ihren Bürostuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches fallen. Ihr Blick wanderte auf die geöffneten Dokumente auf ihrem Bildschirm.

«Wusstest du, dass Ben Grünthal tatsächlich eine Neuuntersuchung seiner Verurteilung vor fünf Jahren beantragt hat?», fragte sie schließlich.

«Ich habe es gerade gelesen.» Alex nahm einen kräftigen Schluck vom heißen Getränk und bereute es sogleich. «Aber nach dem, was wir herausgefunden haben, wird dem Antrag mit Sicherheit stattgegeben. Das System gibt zwar nicht gerne zu, zu irren, aber bei dieser Beweislast wäre alles andere ein Skandal.»

Alles hatte den Anschein, dass Ben Grünthal damals tatsächlich zu unrecht verurteilt worden war. Als er versucht haben soll, das völlig eingeschüchterte Kind vor seiner gewalttätigen Mutter zu schützen, hatte diese die Polizei gerufen und ihn der häuslichen Gewalt gegen sich selbst angezeigt. Da es offenbar eine Rangelei zwischen den beiden gegeben hatte, schien der Sachverhalt für die Ermittler eindeutig. Und Larissa, traumatisiert und verängstigt, hatte sich schon als Sechsjährige geweigert, mit fremden Personen zu sprechen, was die Behörden auf die vermeintliche Bedrohung durch die Person des Vaters zurückführten.

«Da hast du wahrscheinlich recht», stimmte die Ältere nachdenklich zu. «Hast du außerdem mitbekommen, dass er mit Vorbehalt das Sorgerecht für seine Tochter zugesprochen bekommen hat? Das System scheint seine Version ja schonmal als plausibel zu bewerten, wenn es sein Widersetzen gegen das Kontaktverbot und die behördliche Identitätsverfolgung als derart geringfügig einordnet. Stell dir das vor: Nur eine kleine Geldstrafe!»

«Das sieht dem System gar nicht ähnlich», murmelte Alex und nippte diesmal vorsichtig an ihrem Kaffee. «Andererseits hätte er nichts anderes verdient. Wenn er wirklich zu Unschuld verurteilt worden ist. Bestimmt hat das System auch die zerstörte Psyche der armen Larissa mit einkalkuliert – sie scheint ja ziemlich an ihrem Vater zu hängen.»

Alex rümpfte angeekelt die Nase. Wenn sie eines von ihrer Vorgesetzten gelernt hatte, dann war dies, auf ihre eigenen, menschlichen, subjektiven Instinkte zu vertrauen. Technik war nicht allwissend, das durften sie niemals vergessen. Nun war ein unschuldiges Kind dem als «unfehlbar» betrachteten Justiz-Algorithmus zum Opfer gefallen.

Mit konzentrierter Mine tippte Alex auf ihrem Bildschirm umher, um das Video vom Tatort noch einmal herauszusuchen. Die Aufarbeitung des Falls um Ben Grünthals Verurteilung würde mehr Formsache als wirkliche Ermittlungsarbeit werden, darin war sie sich sicher. Dennoch wollte sie diesmal lieber einmal zu genau hinsehen.

«Mir wird immer noch übel, wenn ich daran denke, wozu wir das arme Mädchen beinahe verdammt haben.» In der Stimme der jungen Kommissarin lag noch immer die Erschütterung.

«Mir geht es ähnlich. Aber schau, Jonas hat das Video inzwischen komplett gerendert. Setz dich doch schon mal dran und ich helfe dir, sobald ich mit dem Bericht fertig bin», schlug Maya aufmunternd vor.

Alex nickte zustimmend. «Ich bin schon dran.»

Doch kaum hatte sie die rekonstruierte Aufnahme gestartet, wurde das Bild schon wieder von einem Störsignal durchzogen. Es waren die selben Buchstaben und Ziffern, die für einige Sekunden wahllos über das Bild flimmerten, wie am Morgen in Julia Grünthals Wohnung: 7, 2, F, S. Dazu meinte die junge Ermittlerin, eine verzerrte Stimme zu vernehmen, doch bevor sie ein Wort verstehen konnte, war das Display wieder klar.

«Äh– Maya. Schau doch!», stammelte sie.

Mit zitternden Fingern spulte Alex zurück, um ihrer Kollegin die merkwürdige Störung zu zeigen, doch beim wiederholten Abspielen zeigte das Video keinerlei Fehler.

«Jetzt sehe ich schon digitale Gespenster», entschuldigte sie sich kopfschüttelnd.

«Das ist wirklich äußerst merkwürdig», stimmte Maya stirnrunzelnd zu. «Setz trotzdem besser nochmal Jonas darauf an.»

Buchcover "Alles wie es scheint. Ein Science-Fiction-Krimi" von Sandra W.

To be continued…


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