Der Titel "Alles wie es scheint" auf einer Bildcollage in rottönen. Man sieht eine verschneide Straße mit mehreren Silhouetten von Passanten. Im HIntergrund sind mehrere hell erleuchtete große Gebäute zu sehen. Darüber ein im Verhältnis gigantisches Augenpaar, das die Betrachtenden direkt anszusehen scheint. Links und rechts davon blicken weibliche Gesichter in ähnlicher Größenordnung gedankenverloren nach oben.

Alles wie es scheint | Kapitel I

I-2 Lass die Technik ihren Job tun

«Frau Grünthal. Wie meine Kollegin eben schon erklärt hat, ist es für uns absolut notwendig, den Tatort zu untersuchen. Das ist das vorgeschriebene Routinevorgehen. Bitte beruhigen Sie sich doch.» Alex hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu reden. Seit die beiden die Wohnung des entführten Mädchens und seiner Mutter betreten hatten, gebar sich diese den Ermittlerinnen gegenüber wie ein trotziges Kind.

«Aber wenn ich es Ihnen doch sage, Frau Kommissarin! Larissa wurde nicht einfach so entführt! Wahrscheinlich hat er sie im Schlaf betäubt, damit sie sich nicht wehren kann! Sie müssen ihn finden!», kreischte die aufgelöste Frau erneut, die Alex ungefähr so alt wie sich selbst schätzte, also etwa Mitte zwanzig.

Die junge Ermittlerin schielte unauffällig aus der Küche hinaus in den Flur der kleinen Etagenwohnung, wo Maya gerade dabei war, die Rekonstruktionsdrohnen aufzustellen. Eine im Kinderzimmer und eine weitere im Bereich der Haustür würden erst einmal reichen, doch die aufwändigen Messungen erforderten eine zentimetergenaue Platzierung, weswegen Maya die entsprechenden Räume zunächst ausmessen musste. Das dauerte seine Zeit.

«Bitte beruhigen Sie sich. Meine Kollegin ist beinahe fertig, wir werden Sie also nicht weiter stören», erklärte Alex nun zum dritten Mal und legte der aufgelösten Mutter eine beruhigende Hand auf den angespannten Unterarm. «Mit ‘ihm’ meinen Sie Ihren Ex-Mann Benjamin? Den Vater Ihrer Tochter?»

«Natürlich, wen denn sonst!» Julia Grünthals Stimme wurde noch eine Spur schriller. «Er wollte sie schon einmal stehlen!»

Alex runzelte die Stirn, irritiert über die Wortwahl der jungen Mutter, ließ sich jedoch nichts weiter anmerken. Die arme Frau bangte um das Leben ihres Kindes und stand vermutlich unter Schock, da durfte man gewisse Aussagen nicht so eng nehmen. Stattdessen überflog sie die Daten zur Familie Grünthal, die sie bereits bei der Ankunft abgerufen hatte und nun über ihre digitalen Kontaktlinsen einblenden ließ.

«Herr Grünthal ist in der Tat aktenkundig. Er wurde aufgrund eines Falles von häuslicher Gewalt Ihnen gegenüber vor knapp fünf Jahren zu einer moderaten Gefängnisstrafe verurteilt und ist inzwischen wieder auf freiem Fuß. Allerdings hat er Kontaktverbot zu Ihnen und Ihrer gemeinsamen Tochter, was über seinen Identitätschip kontrolliert wird», fasste sie die relevanten Informationen zusammen. «Aber das wissen Sie selbstverständlich alles.»

«Natürlich! Wie können Sie denn überhaupt daran zweifeln, dass er schuld daran ist!» Julia Grünthal wischte sich eine Strähne ihres glänzenden, blonden Haares aus dem Gesicht, die sich aus der aufwändigen Hochsteckfrisur gelöst hatte. «An allem!», fügte sie hinzu, bevor ihr Redefluss von einem Schluchzen unterbrochen wurde.

Wie die junge Mutter es überhaupt fertig brachte, um diese Uhrzeit schon so tadellos gestylt zu sein, konnte sich Alex beim besten Willen nicht vorstellen. Erleichtert atmete sie auf, als Maya endlich im Türrahmen erschien und ihr so eine weitere, sinnlose Antwort erspart blieb.

«Frau Grünthal», sprach die Hauptkommissarin die aufgebrachte Frau an, «ich bin fertig mit den Vorbereitungen. Im Korridor und im Kinderzimmer sind nun Drohnen installiert, die in diesen Minuten die Räume nach biologischen Fußabdrücken scannen.» Von dem aufgebrachten Luftschnappen ihres Gegenübers ließ sie sich nicht unterbrechen. «Biologische Fußabdrücke, was bedeutet das? Nun, dabei handelt es sich um Einflüsse auf die unmittelbare Umgebung auf molekularer Ebene, die jedes Lebewesen durch seine bloße Anwesenheit ständig auslöst. Winzige Hautpartikel, Fingerabdrücke, Rückstände aus dem Fett- und Säuremantel der Hautoberfläche und die chemische Aura, also nicht wahrnehmbare Duftstoffe, wenn Sie es so nennen wollen. All das wird jetzt von unseren Drohnen aufgenommen und an unseren digitalen Forensiker gesendet. Dieser wiederum wird anhand der Daten die organischen Bewegungen in den entsprechenden Räumen innerhalb der vergangenen 24 Stunden rekonstruieren. Bitte machen Sie sich keine Sorgen, wir arbeiten mit den höchsten Sicherheitsstandards, sodass der Datenschutz jederzeit gewährleistet ist. Wir interessieren uns lediglich für den Tatzeitpunkt und werden nicht weiter als notwendig in Ihre Privatsphäre eindringen», ratterte sie die routinemäßigen Erläuterungen zur Vorgehensweise der Ermittlungen herunter.

Kaum hatte Maya ihre Ausführungen beendet, schaltete sich über die Kommunikationschips der Kommissarinnen die vertraute Stimme des ‘Nerds’ ein: «Wunderschön erklärt meine Liebe. Ein bisschen mehr Motivation könntest du noch an den Tag legen.» Die angesprochene ignorierte die freundschaftliche Stichelei. «Die Scans sind jedenfalls abgeschlossen und alle Daten übertragen. Gebt mir ein paar Minuten.»

Der Digitalforensiker Jonas Bule war sozusagen das Superhirn des Ermittlungsteams. Über die implantierten Chips zu jedem Zeitpunkt mit den beiden Frauen in Kontakt stehend, überwachte der Technikspezialist die Außeneinsätze von seinem Büro im Kommissariat aus. Er analysierte alle Daten in Echtzeit und versorgte seine Kolleginnen im Hintergrund permanent mit allerlei Zwischenergebnissen und Informationen.

«Und das ist alles wirklich notwendig?» In Julia Grünthals Worten lag noch immer die blanke Verzweiflung.

Alex öffnete gerade den Mund, um ihren Text ein weiteres Mal zu wiederholen, als sie den auffordernden Blick ihrer Kollegin bemerkte. Dankbar wandte sie sich ab und machte sich daran, die Dokumentationsdrohnen wieder zu verstauen.

Währenddessen vernahm sie aus dem Nebenzimmer Mayas ungeduldige Stimme: «Wie meine Kollegin Frau Saciem ihnen sicherlich bereits ausführlichst erklärt hat, ist dieses polizeiliche Vorgehen keinesfalls optional. Das ist außerdem völlig unabhängig von der Art der Vorbelastung etwaiger verdächtiger Personen.»

«Aber Sie verlieren doch nur wertvolle Zeit, um dieses bescheuerte Arschloch zu fangen!» Die verzweifelte Mutter redete sich immer noch stärker in Rage. Alex konnte beinahe spüren, wie Mayas Geduldsfaden bei diesen Worten riss. Wenn ihre Vorgesetzte eines nicht ausstehen konnte, dann, wenn jemand sich anmaßte, ihre Arbeit und ihre professionellen Entscheidungen anzuzweifeln.

«Vielleicht war es ja gar keine Entführung. Vielleicht ist Ihre Tochter ja einfach nur abgehauen. Verübeln könnte ich ihr das nicht», fauchte die Ältere mit einem leicht aggressiven Unterton in der Stimme.

«Wie können Sie nur! Was wollen Sie mir hier unterstellen? Das werde ich der Dienstaufsicht melden!» Alex hätte niemals gedacht, dass die Stimme der aufgebrachten Mutter noch höher und schriller werden konnte. Hektisch packte sie den letzten der empfindlichen Sensoren in die Transportkiste und eilte zurück in die Küche.

Sie kam gerade rechtzeitig, um Maya von einer weiteren, unangemessenen Erwiderung abzuhalten. Die Szene, die sich ihr im angrenzenden Zimmer bot, sah aus, als würden sich die beiden Frauen jeden Moment gegenseitig an die Kehle springen. Schnell griff sie nach Mayas Schulter und schob sich zwischen die beiden.

«Wir wollen hier keine unhaltbaren Vermutungen oder voreilige Schlüsse ziehen», versuchte sie die Situation zu entspannen. «Ich entschuldige mich vielmals für den unangebrachten Kommentar meiner Kollegin. Sie steht gerade ziemlich unter Druck.» Mit einem strengen Seitenblick erstickte sie Mayas aufkeimenden Protest.

Offiziell war sie zwar die Rangniedrigere des Ermittlungsteams. Allerdings waren die beiden Kommissarinnen nach drei Jahren gemeinsamer Dienstzeit und zahlreichen überwundenen Spannungen inzwischen ein eingespieltes Team. Außerdem brauchte Maya hin und wieder jemanden an ihrer Seite, um ihr zynisches und selbstgefälliges Temperament zu zügeln, das war ihr selbst nur allzu bewusst. In diesem Moment meldete sich glücklicherweise Jonas’ Stimme zurück, sodass ein weiterer, hitziger Wortwechsel unterbunden wurde.

«Die Analyse ist abgeschlossen. Ich sende euch die fertige Aufnahme vom Tatzeitpunkt. Letzte Nacht, ab 3:38 Uhr.» Ein Klicken verriet ihnen, dass der Digitalforensiker die Kommunikation wieder abschaltete.

Alex zog ein Tablet aus ihrer Jackentasche, faltete es auf und tippte kurz darauf herum. Dann platzierte sie es auf dem Küchentisch, sodass alle den Bildschirm erkennen konnten, und fuhr mit besänftigender Stimme fort: «Frau Grünthal, unser Forensiker hat uns soeben die Analyse geschickt. Es interessiert sie bestimmt?»

Die Angesprochene nickte nur mit verkrampfter Mine und richtete ihren Blick auf den Bildschirm. Maya startete das generierte Video. Schemenhaft konnte man darauf eine kleine Figur auf dem Bett erkennen, die unregelmäßig zuckte. Das musste die vermisste Tochter sein. Weinte sie etwa? Plötzlich öffnete sich die Haustür und ein gesichtsloser Schatten betrat die Wohnung.

«Das ist er! Das ist Ben! Ich kenne seine Statur!», kreischte Julia Grünthal, bevor ein drohender Blick von Mayas Seite ihren beginnenden Redefluss unterband.

Die drei Frauen beobachteten, wie die große Gestalt mit gezielten Schritten den Flur durchquerte und vorsichtig die Tür zum Kinderzimmer öffnete. Er trat ein und näherte sich langsam dem Bett. Das Kind sprang auf. Es schien ein kurzer Wortwechsel zu folgen, dann verließen beide Figuren das Zimmer und schließlich die Wohnung. Augenscheinlich hatte es nicht einmal Handgreiflichkeiten gegeben.

«Er muss sie bedroht haben! Erpresst!», begann die junge Mutter erneut, wurde jedoch von einer Störung des Videos abgelenkt. Über den Bildschirm flimmerten einen Moment lang vereinzelte Ziffern und Buchstaben durch die dargestellten Zimmer. Dann war alles wieder ruhig.

Maya runzelte die Stirn. «Nerdy, was war denn das bitte?», fragte sie in den Raum.

Die Audioverbindung in Alex’ Ohr knackte mehrmals, bevor sie endlich Jonas’ Stimme verstehen konnte.

«Ich habe absolut keine Ahnung. Das ist plötzlich beim Rendern der einzelnen Datenpakete aufgetaucht. Ich schau’s mir schon an», nuschelte dieser, «ich bin dann raus.»

Alex warf Maya einen fragenden Blick zu, während sie das Tablet wieder in ihrer Tasche verstaute und sich zur Tür wandte.

«Frau Grünthal, damit wäre für den Moment alles erledigt. Wir melden uns dann bei Ihnen, sobald wir Ihre Tochter lokalisiert haben.»

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