I-3 Von Menschen und Maskottchen
Seufzend ließ Alex ihren Blick über die Menschenmassen schweifen. Irgendwo hier musste sich der flüchtige Täter aufhalten. Und hoffentlich auch das entführte Mädchen. Irgendwie schien es Benjamin Grünthal geschafft zu haben, seinen Identitätschip außer Funktion zu setzen. Jede Person, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, bekam standardmäßig einen solchen Chip eingesetzt. So konnten alle Aktivitäten während der Bewährungszeit oder im Falle einer – wenn auch sehr unwahrscheinlichen – Flucht überwacht und außerdem bei jeglicher zukünftigen Konfrontation mit dem Gesetz innerhalb von Sekunden Identität und Vergangenheit abgerufen werden. Zwar wurde der Sender nach einer gewissen Zeitspanne aus Datenschutzgründen deaktiviert, allerdings konnte der Zugriff natürlich jederzeit und ohne großes Aufhebens wieder freigeschaltet werden. Außer in diesem Fall, wie es schien.
«Meinst du wirklich, er ist so gewieft, sich hier zu verstecken? Ich meine, HIER, mitten in der Shoppingmall?» In Alex’ Worten schwang der Zweifel mit.
«Ach, so blöd ist das wirklich nicht, im Gegenteil. Wenn er es wirklich fertig gebracht hat, sich des Chips zu entledigen, dann ist ihm auch sonst ein besonnenes und durchdachtes Vorgehen zuzutrauen. Meinst du etwa nicht?», antwortete Maya, während sie ihre Augmented-Reality-Brille aus der Tasche zog.
Im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen vertraute die erfahrene Ermittlerin am liebsten ihren eigenen Sinnen und hielt ihren Gebrauch von technologischen Spielereien auf einem möglichst niedrigen Level. Dem Implantieren des Kommunikationschips hatte sie sich zwar nicht widersetzen können, denn er gehörte zur unbedingt notwendigen Grundausrüstung. Die AR-Linsen allerdings, auf die ihre junge Kollegin schwor, kamen ihr unter keinen Umständen ins Auge.
«Aber die ganzen Überwachungskameras hier? Es war nur eine Frage der Zeit, und zwar einer ziemlich kurzen Zeit, bis ihn die Gesichtserkennung enttarnt hat. Damit muss er doch rechnen?» Alex konnte den Plan des Flüchtigen noch immer nicht gänzlich nachvollziehen.
«Alex, nun überleg doch mal. Nach Hause kann er nicht gehen, das wird natürlich als erstes kontrolliert. Freunde und Verwandte ebenso, du kennst die Vorgehensweise ja selbst. In jedem Hotel wird die Identität anhand der biometrischen Daten festgehalten, also kann sich auch dort keine Person lange verbergen – schon gar nicht, wenn nach ihr gefahndet wird. Seine einzige Hoffnung sind vermutlich Menschenmassen. Selbst, wenn der Algorithmus ihn erkennt, ist er wieder untergetaucht, bevor wir ihn auch nur annähernd erreicht haben», erklärte Maya geduldig. Dann starrte sie einen Moment lang ins Leere, bevor sie anmerkte: «Eigentlich sieht er ja ganz sympathisch aus.»
Alex warf nochmal einen Blick auf das Foto von Ben Grünthal, das Jonas ihr noch am Tatort auf ihre digitalen Kontaktlinsen gesendet hatte. 31 Jahre, mit ernsten Falten um den Mund, einer schlanken Statur und schulterlangen, dunkelbraunen Haaren. Unattraktiv war er tatsächlich nicht. Wäre da nicht sein Ausdruck. Auf dem Fahndungsfoto wirkte er irgendwie traurig und müde. Gebrochen.
«Dann– teilen wir uns besser auf?», fragte sie schließlich. Diesen Ort zu nur zweit zu durchkämmen, war ein gewaltiges Vorhaben.
«Ich denke schon. Du übernimmst die Fußgängerzone und ich gehe links herum durch die Seitengassen», entschied die Ältere nach einem kurzen Zögern. «Wenn wir ihn nicht finden, treffen wir auf der anderen Seite. Dort, wo er zuletzt aufgetaucht ist. Jonas, bist du bereit?»
«Ich habe euch auf dem Monitor. Legt los», ertönte auch schon die Stimme des Forensikers in ihren Ohren und gab den beiden Frauen auf diese Weise den Startschuss.
Ehe sie sich versah, bahnte sich Alex schon einen Weg mitten durch den belebtesten Teil der Einkaufsstraße. Mit ihrer zierlichen Statur von 1,63 Metern fühlte sie sich wie ein Kind, das von unachtsamen Passanten hin und her gestoßen wurde und selbst kaum mehr als einen Schritt weit sehen konnte. Zu klein, um sich einen wirklichen Überblick zu verschaffen.
«Das kann ja heiter werden», murmelte sie , während sie sich mit einem beherzten Schritt zur Seite gerade so davor bewahrte, mit voller Wucht in die Frau vor ihr zu laufen, die abrupt stehen geblieben war. Mit einer floskelhaften Entschuldigung schob sie sich vorbei, nur, um im nächsten Moment hilflos hinter einer Reihe von Kindern her zu schlendern, die sich an den Händen hielten und so die halbe Straße blockierten. Über ihr waren die halbtransparenten Werbedisplays, welche die Besucher der Einkaufsmeile vor unangenehmem Wetter schützen und dabei gleichzeitig für Unterhaltung sorgen sollten, an die hohen Hauswände geklappt, sodass sich die stechenden Strahlen der Frühlingssonne ungehindert ihren Weg nach unten bahnen konnten. Obgleich noch immer Vormittag war, schickte ihr die entstehende dampfige, schwere Luft bereits die ersten Schweißtropfen auf die Stirn. Glücklicherweise erregte ein grellpinkes, aufrecht gehendes Kaninchen, dessen Ohren Alex mindestens um einen halben Meter überragten, die Aufmerksamkeit der Kleinen, sodass die Kommissarin geschwind an der Gruppe vorbei und in den Schatten einiger Vordächer huschen konnte.
Der Grund, warum Maya ihre jüngere Kollegin ins Getümmel geschickt hatte, auch, wenn sie selbst sich aufgrund ihrer hochgewachsenen Statur viel einfacher einen Überblick hätte verschaffen können, waren eben jene überlebensgroßen Kostüme, in denen häufig simple Roboter, zu einem erheblichen Teil aber auch immer noch Menschen die Aufmerksamkeit der Passanten zu gewinnen versuchten. Da es schlichtweg unmöglich war, als gewöhnliches Einkaufsgeschäft mit dem Angebot der großen Onlinehändler mitzuhalten, war der Schwerpunkt des lokalen Handels bereits vor Jahrzehnten hin zum Entertainment-Faktor gewandert. So wimmelte es in den Shoppingmalls nur so vor Attraktionen, grotesken Maskottchen, Musik und anderen künstlerischen Darbietungen. Und Maya Untersberger hatte eine irrationale, aber einschneidende Furcht vor Kostümen jeglicher Art.
«Alex! Er ist wieder aufgetaucht, nicht weit von dir. Etwa 25 Meter vor dir, eher linke Seite», unterbrach Jonas’ besonnene Stimme ihre Gedanken.
Die angesprochene sprintete los – sofern man in dieser Masse an Leibern überhaupt von so etwas wie «rennen» sprechen konnte. Es war mehr eine Mischung aus Anrempeln, Hindurchzwängen, Hakenschlagen und Zurückgestoßenwerden. Kurzum: Es war frustrierend. Alex brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um die von Jonas angegebene Stelle zu erreichen. Von Ben Grünthal war natürlich keine Spur mehr zu sehen.
Mit klopfendem Herzen drehte sich die junge Frau um die eigene Achse. Ein undurchdringbares Meer aus Gesichtern und Masken, umrahmt von blinkenden Werbetafeln, wohin sie auch blickte.
«Er ist weg», informierte sie ihre Kollegen, «in dieser Menge ist es unm– Moment!» Ihre Kontaktlinsen, die ihr gesamtes Blickfeld aufnahmen und mit einem komplexen Algorithmus automatisch nach Hinweisen analysierten, umrahmten eine Gestalt zu ihrer Rechten mit einer rötlichen Aura und lenkten so die Aufmerksamkeit ihrer Trägerin. Sie konnte nur einen kurzen Blick auf das Gesicht erhaschen, das teilweise von einer weiten Kapuze verdeckt wurde, doch das reichte der Ermittlerin. «Da ist er! Sichtkontakt!»
«Ich habe dich auf dem Schirm. Maya, nimm die zweite Straße rechts und dann durch die Passage!», befahl Jonas, der von seinem Büro aus alles im Blick hatte.
«Alles klar», meldete sich auch die Ältere.
Der Gesuchte hatte sich in der Zwischenzeit zufällig in die Richtung der Kommissarin gewendet. Für den Bruchteil einer Sekunde fing ihr Blick den Seinen, dann drehte sich der Mann um, ergriff das Mädchen neben sich bei der Hand und war zwischen einem gigantischen, grinsenden Tablet und einer Werbetafel für das neuste CleverCoin 3.0 – dieser Verkaufsschlager soll angeblich durch die Stimulierung gewisser neuronaler Aktivitäten die individuelle Intelligenz steigern können – verschwunden.
Alex bahnte sich einen Weg, um die Verfolgung aufzunehmen. Doch es war vergebens. Immer, wenn sie meinte, die dunkle Kapuze zwischen all den Gestalten zu erhaschen, war es beim zweiten Hinsehen bloß ein Hut, ein Teil einer ausladend designten Jacke, ein Kostüm.
«Er ist im Subway. Alex, die Treppe auf der linken Seite!»
«Ich bin dran!» Mit einem erleichterten Aufatmen folgte sie Jonas’ Anweisungen und trabte die Stufen der Rolltreppe hinunter. Das untere Stockwerk der Shoppingmall war etwas kühler, aber nicht weniger gut besucht.
«Geradeaus! Er ist nicht weit vor dir!»
Alex schubste und drängelte sich vorwärts. Sie sah die dunkle Gestalt um eine Ecke biegen, das blonde Mädchen noch immer hinter sich herziehend, und rannte hakenschlagend hinterher. In das Modegeschäft zu ihrer Rechten. Völlig fixiert auf die beiden, die den Laden auf der anderen Seite gerade wieder verließen, stolperte sie über irgendetwas und ging Arm in Arm mit einer lebensgroßen Schaufensterpuppe zu Boden, die mit mechanischen Bewegungen dabei war, ein extravagantes Kleid zur Schau zu tragen. Um sie herum brach Tumult aus, jemand kreischte filmreif. Der schwere Körper des primitiven Roboters verpasste ihr während des Falls einen derben Schlag, doch die Kommissarin kümmerte sich nicht um den stechenden Schmerz, der in ihrem Rücken explodierte. Sie sprang erneut auf die Beine und stürmte, leicht humpelnd, an den entgeisterten Angestellten und Kunden vorbei. Für eine Erklärung blieb keine Zeit. Zurück auf der unterirdischen Straße. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die verfolgte Gestalt das Kind zwischen eine bunte Gruppe herumalbernder Drachenmaskottchen zog. So leicht ließ sich Alex nicht abschütteln. Sie drängte sich um die hüpfenden und lachenden Kreaturen herum, sprang über einen achtlos abgestellten Einkaufskorb und folgte dem ungleichen Paar auf dem Fuß. Schließlich flüchteten die beiden in eine enge, menschenleere Passage.
«Maya», schnaufte Alex atemlos, «sie sind–»
«Hier.» Die Worte der Hauptkommissarin kamen nicht nur aus dem Chip in Alex’ Ohr, sondern zugleich auch vom anderen Ende der Gasse.
Im selben Moment unterbrachen Vater und Tochter ihre verzweifelte Flucht. Ben Grünthal wendete sich hektisch um, suchte nach einem Ausweg – und fand sich Auge in Auge mit seiner schmächtigen Verfolgerin wieder. In seinem Blick flammte die Erkenntnis auf: Es war vorbei. Schützend legte er einen Arm um die Schultern des Mädchens an seiner Seite und zog es zu sich heran.