Der Titel "Alles wie es scheint" auf einer Bildcollage in rottönen. Man sieht eine verschneide Straße mit mehreren Silhouetten von Passanten. Im HIntergrund sind mehrere hell erleuchtete große Gebäute zu sehen. Darüber ein im Verhältnis gigantisches Augenpaar, das die Betrachtenden direkt anszusehen scheint. Links und rechts davon blicken weibliche Gesichter in ähnlicher Größenordnung gedankenverloren nach oben.

Alles wie es scheint | Kapitel I

I-4 Von Angesicht zu Angesicht

Ben Grünthal hob seine freie Hand mit einer beschwichtigenden Geste.

«Bitte. Ich kann alles erklären–», setzte er an.

«Ich denke nicht, das wir noch eine Erklärung brauchen», unterbrach Maya ihn spitz. «Ihre Taten sprechen für sich.»

«Ich bin mir meiner Taten bewusst. Und wie es für Sie scheinen mag. Aber bitte, ich bitte Sie, lassen Sie mich reden», flehte er, während sich seine Tochter Larissa schüchtern hinter ihn schob.

«Sie wollen uns also erklären», keuchte Alex, noch immer außer Atem, «warum sie ihren Identitätschip deaktiviert, das Kontaktverbot zu Ihrer Familie übergangen und Ihre gemeinsame Tochter aus der Wohnung Ihrer Ex-Frau entführt haben?» Mit ihren Fingern tastete sie vorsichtig nach der schmerzenden Stelle an ihrem Rücken und versuchte angestrengt, ihre Atmung zu beruhigen. Jede Bewegung ihres Brustkorbs schickte schmerzende Stiche an ihrer Wirbelsäule hinab.

Der gestellte Täter schob die Kapuze, die sein Gesicht vor den Überwachungskameras verbergen sollte, mit einer fahrigen Geste zurück und raufte sich verzweifelt die Haare.

«Ja. Wirklich. Bitte hören Sie mich an.»

«Wir sind nicht hier, um zu diskutieren», entgegnete Maya kalt. Mit ihrer muskulösen Statur und den schwarzen Klamotten, die Hand unter der Jacke verborgen, zweifellos bereit an der Waffe, wirkte sie in der dunklen Gasse wie eine zwielichtige Gestalt. Unter den seitlich am Kopf abrasierten Haaren leuchtete die alte Messernarbe bedrohlich hell auf der ansonsten dunklen Haut. Bedrohlich, ja, und sie war sich ihrer Ausstrahlung durchaus bewusst.

«Larissa. Bitte komm zu mir», warf Alex dazwischen, bevor das arme Kind noch mehr verängstigt würde. Mit beruhigender Stimme redete sie auf das Mädchen ein: «Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bringe dich nach Hause.»

Die Elfjährige schüttelte nur den Kopf und klammerte sich an ihren Vater.

Alex warf ihrer Kollegin einen ratlosen Blick zu, dann versuchte sie es weiter: «Du brauchst wirklich keine Angst mehr zu haben. Egal, was dein Vater getan oder gesagt hat. Es ist vorbei.»

Larissa Grünthal entfuhr ein Schluchzen und sie vergrub ihr Gesicht in der ausgebleichten Stoffjacke ihres Vaters.

Dieser ging langsam in die Hocke und nahm seine Tochter in den Arm.

«Larissa, mein Schatz. Bitte tu, was die Polizistin sagt», flüsterte er sanft.

Die Angesprochene weinte bei diesen Worten bitterlich auf. Keine Chance, sie gewaltfrei von ihrem Vater zu lösen.

«Das reicht!» Mayas Geduldsfaden war an seinem Ende angelangt. Mit festen Schritten ging sie auf die beiden zu. «Wir haben keine Zeit für diese Spielchen. Was haben sie ihrer armen Tochter nur angetan?»

«Maya, vielleicht sollten wir–», warf Alex vorsichtig ein. Irgendetwas schien an der Sache ganz und gar nicht zu stimmen. Doch ihre Vorgesetzte ließ sie gar nicht erst aussprechen.

«Jetzt fang du nicht auch noch an!», unterbrach Maya sie harsch, legte dem vorbestraften Vater mit einer groben Bewegung Handschellen an und packte sowohl ihn als auch seine Tochter am Arm. «Ihr kommt jetzt erst mal beide mit.»

«Mädels, passt mal auf», Jonas’ plötzliche Wortmeldung lies sie doch innehalten. Er würde nicht einfach so eine Festnahme unterbrechen, wenn er nicht einen wirklich triftigen Grund hätte. «Ich hab’ hier etwas, das ihr euch unbedingt ansehen solltet.» Kaum hatte er ausgesprochen, blinkte auf den AR-Devices der beiden Kommissarinnen eine Meldung mit einer Videodatei auf.

Die beiden wechselten einen irritierten Blick, dann wandte sich die Hauptkommissarin schulterzuckend ab und startete den Clip mit einer flüchtigen Berührung des Brillenbügels. Alex tat es ihr mit einer winzigen Pupillenbewegung gleich.

Es war die rekonstruierte Aufnahme des Tatortes, allerdings einige Stunden vor der Tat. Genau genommen am Vortag, um 11:49 Uhr vormittags. Maya öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, entschied sich aber dagegen. Das Kinderzimmer in Julia Grünthals Wohnung lag still und verlassen da. Doch plötzlich wurde die Tür aufgerissen und eine zierliche Gestalt, aller Wahrscheinlichkeit nach Larissa selbst, stürmte in ihr Zimmer und stemmte sich von innen gegen die Tür. Ihre gesamte Körperkraft schien jedoch nicht auszureichen, sodass die Zimmertür langsam von außen aufgedrückt wurde. Eine weitere Gestalt trat ins Zimmer. Sie griff das Kind an den Haaren und riss es gewaltsam zurück. In der anderen Hand schien sie einen Gegenstand zu halten. Dieser fuhr immer und immer wieder auf die kleine Gestalt herunter. Auf den Oberkörper, den Rücken, die Beine. So lange, bis sie sich nicht mehr bewegte. Dann ließ der große Schemen von seinem Opfer ab, drehte sich um und verließ das Zimmer. Die Tür fiel mit Schwung ins Schloss und die kleine Gestalt blieb reglos am Boden liegen. Das Video stoppte.

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