E-Book-Cover: "Betäubter Wille" von Anna Lena Diel

„Betäubter Wille“ von Anna Lena Diel | Rezension

Titel:Betäubter Wille
Autorin:Anna Lena Diel
Veröffentlichung:September 2020
Verlag:Nova MD (Selfpublishing)

Klappentext | Betäubter Wille

Der erste Fall für Arthur Morgenroth

In einer Kieler Wohnung wird die Leiche eines jungen Neurowissenschaftlers aufgefunden. An der Wand prangt das blutrote Symbol von Liberty of Mind, einer gewaltbereiten Gruppierung, die sich offen gegen das exzessive und mittlerweile in allen Bevölkerungsschichten alltägliche Gehirndoping ausspricht.

Obwohl Kriminalkommissar Arthur Morgenroth gerade erst in den Dienst zurückgekehrt ist, nimmt er die Ermittlungen auf. Schon bald wird dieser Fall für ihn nicht nur zu einer beruflichen, sondern auch zu einer persönlichen Bewährungsprobe.

Science-Fiction-Krimi oder Gesellschaftsportrait?

Es ist der Abend des 19. Novembers 2029. Ein junger Wissenschaftler wird in seiner Kieler Wohnung grausam ermordet. Die emotionsgeladene Tat zeugt von immenser Wut, weist aber zugleich eine berechnende und kaltblütige Handschrift auf. Nachdem auch noch Aufnahmen vom Tatort in den sozialen Netzwerken veröffentlicht werden, ermitteln die Kriminalkommissare Charlotte Drey und Arthur Morgenroth unter dem erdrückenden und urteilenden Blick der Öffentlichkeit. Obwohl es verschiedene Hinweise gibt, steht die Polizei zunächst vor einem Rätsel.

Abwechselnd aus den Blickwinkeln des Ermittlerduos bestehend aus Charlotte und Arthur, außerdem Irma Nessaus, der Mutter des Opfers, sowie dessen Lebensgefährtin Josefine Krist handelt Anna Lena Diels Betäubter Wille von den Untersuchungen rund um den schrecklichen Mord an dem Neurowissenschaftler Benjamin Nessau, der ganz Kiel in Atem hält. Wir lernen die Gedanken- und Gefühlswelt dieser vier Charaktere kennen, ihre Reflexionen über das Opfer und über die Tat – und über ihr eigenes Leben. Während die Ermittelnden Tage wie Nächte durcharbeiten, um Indizien zu sammeln und tatverdächtige sowie angehörige Personen zu verhören, scheinen Letztere nicht nur an einer raschen Aufklärung des Verbrechens interessiert, sondern in erster Linie von den Konsequenzen des brutalen Mordes für ihre eigene Zukunft eingenommen.

Denn bei Betäubter Wille handelt es sich um weit mehr als nur einen klassischen Polizeikriminalroman. Die Erzählung spielt in exakt neun Jahren, nämlich zwischen dem 19. und dem 23. November 2029. In dieser nahen Zukunft finden sich die Lesenden schnell zurecht, denn auf den ersten Blick eröffnen sich kaum Unterschiede zu unserer heutigen Gesellschaft in Deutschland. Doch der Schein trügt. Ganz im Sinne einer gewissenhaften Science-Fiction beruft sich Betäubter Wille auf aktuell relevante Forschungen und gesellschaftliche Entwicklungen, um diese auf durchaus überzeugende Weise in die nahe Zukunft zu extrapolieren.

Neben einigen technischen Spielereien, die unter anderem maßgeblichen Einfluss auf die Verbrechensaufklärung und die letztendliche Entlarvung der Tat nehmen, zeichnet die Gesellschaft von Betäubter Wille ein allumfassender Leistungsdruck aus. Nein, ein regelrechter Leistungszwang! Denn wer sich hier nicht mit sogenannten «Neuroenhancern» vollpumpt, um jegliche Impulse und Affekte zu kontrollieren, Müdigkeitssymptome zu unterdrücken, die Konzentrationsfähigkeit zu steigern, körperliche Schmerzen zu vergessen oder die eigene Stimmung aufzuhellen – eine Verstimmung, die länger als einen Tag andauert, gilt bereits als Depression –, und wer sich gar erlaubt, mehr als zwei Wochen über den Verlust eines nahestehenden Menschen zu trauern… ja, die*derjenige wird nicht nur von ihren*seinen Mitmenschen mit Verachtung gestraft, sondern muss unmittelbar um die eigene Jobsicherheit bangen. Weigert sich nämlich jemand, die eigene Leistung bequem mit den unzähligen bunten Pillen ins Übermenschliche zu steigern, dann schiebt diese Person ihre Arbeit eigentlich nur auf ihr Umfeld ab. Ein solch «unsoziales» Verhalten darf keinesfalls toleriert werden. Zumindest laut der Logik dieser Gesellschaft.

Tatsächlich aber ist diese Vision der nahezu grenzenlosen menschlichen Leistungssteigerung in Betäubter Wille näher an unserer Realität angesiedelt, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Denn insbesondere im universitären Umfeld ist es bereits heute gang und gäbe, etwa das ADHS-Medikament Ritalin zu missbrauchen, um das immense Lernpensum bewältigen zu können. Auch psychoaktive Drogen, wie LSD, die berühmten «Magic Mushrooms» oder Heroin, häufig in sogenannten Microdosen, sollen die eigene Laune sowie die Konzentrationsfähigkeit steigern und so zu effizienterem Arbeiten verhelfen – und werden auf nahezu jedem Universitätscampus gehandelt. Vor dem Hintergrund, dass die Tendenz des gesellschaftsfähigen «Neuroenhancing» bereits heute unter der Oberfläche der gesellschaftlichen Akzeptanz brodelt, schlichtweg, weil die betroffenen Personen keine andere Möglichkeit sehen, um dem immensen, heutzutage herrschenden Leistungsdruck standzuhalten, ist es nur noch ein sehr kleiner Schritt, um den Weltentwurf von Betäubter Wille als gegeben zu akzeptieren.

Sicherlich wirkt sich der alltägliche Drogenmissbrauch des Romans auf langfristiger Sicht negativ auf den menschlichen Organismus aus, denn ein kontinuierliches Überschreiten der eigenen körperlichen Grenzen kann natürlicherweise nicht folgenlos bleiben. Dies ist den Figuren offenbar auch bewusst, wird aber geflissentlich ignoriert, was ich als sehr authentisch empfinde. Wirft man einen Blick auf die unzähligen Medikamente, Nahrungsmittel und Praktiken, die heutzutage und teilweise schon seit Jahrzehnten als massiv gesundheitsschädlich entlarvt sind, aber noch immer ungeniert konsumiert und praktiziert werden, dann ist der Umgang mit den Drogen in Betäubter Wille nur eine konsequente Fortführung unserer derzeitigen Gesellschaftspolitik. Man denke etwa an die Antibabypille, den übermäßigen Einsatz von Antibiotika in der Fleischproduktion oder die Verwendung von Zucker und Geschmacksverstärkern in nahezu jedem Nahrungsmittel…

Ein charakterstarkes Meisterwerk

Cover: "Betäubter Wille" von Anna Lena Diel

Die Lektüre von Anna Lena Diels hervorragend recherchiertem Kriminalroman bietet eine genüssliche Mischung aus authentischen Charakteren, einem flüssigen und mitreißenden Schreibstil, vielschichtigen Perspektiven auf gesellschaftliche Entwicklungen, einen spannenden Handlungsbogen – und schließlich eine ordentliche Portion Lyrik. Denn für Arthur Morgenroth, der sich dem unterschwelligen Zwang des «Neuroenhancing» zu entziehen versucht, stellen Gedichte, insbesondere jene Rainer Maria Rilkes, einen ganz persönlichen, haltgebenden Anker im reißenden Fluss des Leistungsdrucks dar. Sie rufen ihm die Schönheit und Stärke der richtigen Worte im richtigen Augenblick in den Sinn, die Faszination der (menschlichen) Natur und des Lebens. Sie eröffnen ihm Wahrnehmungen, Gefühle, Intuitionen, die ihm unter dem Einfluss der Drogen schlichtweg entzogen werden. Die zahlreichen Gedichtfragmente, die beiläufig, aber immer passend, in den Erzähltext eingeflochten sind, lockern die Handlung auf und verleihen ihr zugleich eine ungeahnte Tiefe.

Dabei gelingt es der Autorin in Betäubter Wille, mit nur vier Protagonisten und einer Handvoll Nebencharaktere eine umfassende Diversität und Mehrdimensionalität der Gesellschaft abzubilden. Während sich der zentrale Protagonist Arthur gegen jenen Druck stemmt, bauen etwa seine Kollegin Charlotte und Josefine, die Lebensgefährtin des Opfers, ihre Karrieren und ihr ganzes Leben auf jenen Substanzen auf. Die vollständige Impulskontrolle ist die gesellschaftliche Norm in Betäubter Wille, nicht einmal die Mutter eines grausam ermordeten jungen Mannes darf ihre Trauer in der Öffentlichkeit durchblicken lassen. Doch was macht diese Praktik mit den Menschen? Hinter den emotionslosen, immerwährend funktionierenden Fassaden verbergen sich irgendwo noch Individuen. Eine Auswahl davon lernen wir in Betäubter Wille kennen – und schließlich verstehen.

Betäubter Wille ist ein überaus gelungener Science-Fiction-Krimi, der seine Lesenden von der ersten bis zur letzen Seite zu fesseln vermag. Der flüssige und detailreiche Schreibstil lässt seine Rezipierenden so schnell nicht mehr los, wobei Anna Lena Diel einen Balanceakt zwischen dem stetigen, spannungsaufbauenden Handlungsfortschritt und der individuellen Gedankenwelt der Figuren, ihren Ängsten, Sorgen und ihrer Vergangenheit meistert. Ich habe Betäubter Wille im wahrsten Sinne des Wortes verschlungen. Die Mischung aus naheliegender und doch erschreckender Zukunftsvision und klassischem Polizeikrimi macht den Roman zu einem absoluten Meisterwerk, das mich in vollem Umfang begeistert.

In diesem Sinne muss ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen, denn lange hat mich ein Roman nicht mehr so gepackt.

Einen kleinen Einblick in das intensive erste Kapitel des Romans bietet euch diese Hörprobe – hört doch mal rein!

Hörprobe // Betäubter Wille – Anna Lena Diel // Kapitel 1

Kurz & Bündig

PositivNegativ
SchreibstilFlüssig & elegant ★
SpannungKontinuierlicher Spannungsaufbau bis zum Finale ★
CharaktereAuthentisch & vielfältig ★
SettingDüstere Zukunftsvision ★
HandlungMitreißend ★

Bewertung: ★ ★ ★ ★ ★

Mein Exemplar von Betäubter Wille habe ich im Rahmen einer Leserunde auf Lovelybooks erhalten. Ich bedanke mich herzlich bei der Autorin Anna Lena Diel für die Zusendung des Rezensionsexemplars!


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